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Equinox

Equinox

Titel: Equinox
Autoren: Jörg Juretzka
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»Bist du wahnsinnig?«, fragte er, und es klang nach echtem Interesse.
    Bilge. Irgendwie ist dieses Wort mit einem Ruch belegt, irgendwas daran lässt einen innerlich Abstand nehmen und einer Einladung zu einer Besichtigung mit Zurückhaltung begegnen.
    »Geh du vor«, sagte ich zu Ratso.
    »Mach mal Licht«, schrie Ratso über den Lärm der Motoren und Generatoren hinweg dem Mechaniker zu, der uns die Einstiegsluke im Fußboden des Maschinenraums offen hielt. Dann kletterte er die eiserne Leiter hinunter und ich hinterher. Der Rumpf der Equinox war ganz leicht V-förmig, und in seiner Mitte, am tiefsten Punkt des Schiffes, hatte man, auf stählernen Stelzen, ein Laufgitter angebracht, das den Schiffskörper vom Bug bis zum Heck durchzog. Unter dem Laufgitter schwappte eine Menge Wasser und in dem Wasser eine Menge … Zeugs. Ich sah bewusst nicht hin und meine Nase fand das sehr vernünftig.
    Über dem Laufgitter waren in Abständen Glühbirnen angebracht. In großen Abständen, mit weiten Strecken nahezu perfekter Dunkelheit dazwischen. Ich war froh über die Handlampen, die Ratso mitgebracht hatte.
    »Dann viel Spaß«, rief der Mechaniker noch und klappte den Deckel über uns zu.
    Das Dröhnen der unter Volllast laufenden Motoren ließ hier unten alles beben, der Wasserdruck von außen schien die Luft zu komprimieren, bis es in den Ohren knackte, der Gestank der fauligen Brühe unter unseren Füßen knetete einem den Magen durch und ich fand alle meine Vorbehalte gegen das Wort »Bilge« in unnötiger Reichhaltigkeit bestätigt.
    Wir fuhren Volldampf voraus, jawohl. Jansen hatte eingestellt, ich hatte abgekniffen und ihm dann mit der Ledersocke einen Klaps ins Genick gegeben, der ihn die Augen verdrehen und über seiner Tastatur zusammensinken ließ. Als Alibi. Eine Stunde, so Jansens Schätzung, würde Honnaido brauchen, die Kabel zu flicken und die Geschwindigkeit wieder herunterzufahren. Doch eine Stunde ist eine Stunde ist eine Stunde, so mein Argument.
    »Wo kommt das ganze Wasser her?«, fragte ich Ratso und musste schreien, damit er mich verstand.
    »Schwitzwasser von innen, Meerwasser von draußen«, kam es lapidar zurück.
    »Soll das heißen, der Kahn ist nicht wasserdicht?«, schrie ich, voll landrattenmäßiger Besorgnis.
    »Kein Schiff ist wirklich dicht«, schrie Ratso zurück und winkte mir, ihm zu folgen. Handlampen an, und wir begannen, uns vorzutasten.
    Ich wollte gerade eine weitere intelligente, auf der Hand liegende Frage zum Thema Wassereinbruch stellen, da passierten wir einen von der Decke ragenden Rüssel, der bei jedem leichten Wanken des Schiffes seine Schnute in die stinkende Mocke steckte und unter kehligem Schlürfen einiges davon einsaugte. Pumpe, sagte ich mir, um eine Sorge leichter.
    Die Decke war so niedrig, dass wir beide den Kopf zwischen die Schultern nehmen mussten. Ich vor allem. Fünfzig Schritte, und der bedrückende Raum schien sich nach vorne wie nach hinten in alle Ewigkeit fortzusetzen. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück und wünschte, der Mechaniker hätte die Luke offengelassen.
    Gleich, dachte ich, setzt diese unheilschwangere Musik ein, Ratsos Schatten wächst ins Riesenhafte, ich muss erkennen, dass er der Oberschurke ist, konfrontiere ihn mit der Wahrheit, er gesteht alle Hintergründe, ein Kampf auf Leben und Tod entbrennt und der Verlierer muss runter vom Laufgitter und versinkt schließlich auf Nimmerwiedersehen in …
    Ein winziges rotes Birnchen blinkte mich einmal kurz an. Von rechts. Oder hatte ich mir das eingebildet?
    Ich stoppte, starrte in die Richtung, ins Dunkel, doch da blinkte nichts. Ich machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen, und da war es wieder. Ein kleines rotes Birnchen schien stetig vor sich hin. Ich hielt die Lampe drauf. Ihr Schein fiel auf einen flachen, runden Gegenstand, etwa vom Format einer Filmrolle. Kinofilm, nicht dass wir uns hier missverstehen. Bloß, dass Filmrollen keine roten Lämpchen in ihrer Mitte haben, in den meisten Fällen auch keinen olivgrünen Anstrich und kaum jemand auf die Idee käme, sie mehrere Meter unterhalb der Wasserlinie von innen an den Rumpf eines Schiffes zu heften.
    Es war, jetzt mal ehrlich, nicht schwer zu erraten, worum es sich bei dem Ding handelte, es war so was wie die Realisierung tief sitzender Befürchtungen, und trotzdem war es auch einer von diesen Momenten, wo man den Rückzug nicht ohne absolute Gewissheit antreten kann. Selbst wenn das hieß, vom Laufgitter zu
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