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Entfuehrung nach Gretna Green

Titel: Entfuehrung nach Gretna Green
Autoren: Karen Hawkins
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hätte nachfragen müssen, bevor sie mit ihm aufgebrochen war. Doch als Ravenscroft ins Frühstückszimmer geplatzt war und mit verzweifelter Miene einen Brief durch die Luft geschwenkt hatte, hatte sie überhaupt nicht nachgedacht. In der Handschrift ihres Vaters stand in dem Brief, dass sie augenblicklich mit Ravenscroft gehen sollte, um ihrer Mutter beizustehen, die ernsthaft erkrankt war.
    Venetia, die daran gewöhnt war, dass ihre Mutter jedes Zipperlein als tödliche Krankheit ansah und ihr Vater eine ausgeprägte Fähigkeit besaß, jede Verantwortung auf andere abzuschieben, empfand die in dem Brief überbrachte Aufforderung als lästig, nicht aber als seltsam. Also tauschte sie ihr Reitkostüm gegen Reisekleidung, packte in aller Eile einen Handkoffer und schrieb hastig eine kurze Nachricht, in der sie ihrem Vater mitteilte, dass sie seiner Bitte nachkäme. Dann stieg sie in Ravenscrofts Kutsche.
    Natürlich war es sinnlos, sich allzu viele Gedanken zu machen, bevor sie ihre Mutter mit eigenen Augen gesehen hatte. Zu dumm nur, dass die Aufgabe, sie zu begleiten, Ravenscroft übertragen worden war, dem neusten „Projekt“ ihres Vaters. Papa sah sich selber gern als Retter der Unterdrückten, was bedeutete, dass er von Zeit zu Zeit versuchte, einer armen, verlorenen Seele dabei zu helfen, in der gehobenen Gesellschaft Fuß zu fassen. Er nannte das sein „großes soziales Experiment“, Venetia war hingegen insgeheim der Meinung, dass der Hauptgrund für sein Engagement die Artigkeiten waren, die Ravenscroft voller Dankbarkeit großzügig über ihm ausschüttete.
    Früh am Morgen, während sie in der dahinrasenden Kutsche London hinter sich ließen, hatte Venetia noch Mitleid für den armen Ravenscroft empfunden, der in die verrückten Zwischenfälle, die es in ihrer Familie ständig gab, hineingezogen worden war. Nachdem sie aber zwei Stunden in der Kutsche an seiner Seite verbracht hatte, waren ihr ernsthafte Zweifel an dem jungen Mann gekommen. Irgendetwas - sie war sich nicht ganz darüber im Klaren, um was genau es sich handelte - war nicht, wie es sein sollte. Er war äußerst nervös und streckte ständig den Kopf aus dem Fenster, als würde er befürchten, verfolgt zu werden.
    Venetia besaß viele Eigenschaften, doch Dummheit gehörte nicht dazu. Sie versuchte, Ravenscroft darüber auszufragen, unter welchen Umständen es dazu gekommen war, dass ihr Vater ausgerechnet ihn beauftragt hatte, sie zu begleiten, während sie an die Seite ihrer Mutter eilte. Daraufhin stotterte und stammelte Ravenscroft so ein Durcheinander an Erklärungen und Entschuldigungen vor sich hin, dass sie Kopfschmerzen davon bekam.
    Sie öffnete die Schlaufen des Ledervorhangs vor dem Fenster auf ihrer Seite der Kutsche, um nach draußen zu schauen. Sie fuhren viel zu schnell, um auch sicher zu reisen. Die Pferde waren bereits erschöpft, sodass sie bald anhalten mussten, um sie zu wechseln. Und wenn sie das taten, würde sie sich weigern weiterzufahren, bevor Ravenscroft ihre Fragen beantwortet hatte. Wenn er ihr die Antworten schuldig blieb, würde sie bei der Gastwirtin Schutz suchen und eine Nachricht nach London an ihren Vater schicken, mit der Bitte, sie abzuholen.
    Nachdem sie diesen Plan gefasst hatte, hakte Venetia den Vorhang wieder zu, weil sie in dem kalten Wind, der durch die Ritzen des Fensters drang, bereits zitterte. Sie lehnte sich wieder in die Polster und warf Ravenscroft einen geringschätzigen Blick zu. Obwohl er bereits zweiundzwanzig Jahre alt war, wirkte er erheblich jünger. Er war dünn und bedauernswert kleinwüchsig, eine Tatsache, die er zu verbergen trachtete, indem er Wattepolster in den Schultern seiner Mäntel und hohe Absätze an seinen Reitstiefeln trug. Seine Augen waren von einem wässerigen Blau und sein Kinn kaum vorhanden, doch er machte seinen Mangel an gutem Aussehen und sicherem Auftreten durch enthusiastische Schmeicheleien wett - was auch der Grund dafür war, dass Venetias Vater ihn für unfehlbar hielt.
    Als die Kutsche um eine Kurve schlingerte, klammerte Venetia sich am Rand ihres Sitzes fest. „Wir fahren viel zu schnell für diese schlechte Straße, Ravenscroft!“
    „Ja, sicher, aber wenn wir schnell fahren, werden wir ... schneller da sein.“
    Bevor Venetia, die bei Ravenscrofts seltsamer Antwort die Stirn gerunzelt hatte, eine weitere Frage stellen konnte, schaukelte die Kutsche beim Überqueren einer besonders tiefen Fahrrinne so heftig, dass sie beide in die Höhe
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