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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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sollte.

    Jasja stand neben Nikita und wartete geduldig, während er die fremden Leben betrachtete. Das Wichtigste schaffte er nicht. Sie zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen. Alle russischen Geschichten zu einer, der großen Geschichte zusammenzufügen. Die letzte Anstrengung des Verallgemeinerns wollte ihm nicht gelingen. Menschliche Schicksale, Worte und Taten existierten autonom und selbständig, stur liefen sie in verschiedene Richtungen auseinander, und es gab darin keine gemeinsame Logik, nur Chaos und Eigensinn.
    »Du denkst einfach in die falsche Richtung«, sagte Jasja. »Du hast schon vorher das Ergebnis im Kopf, das du haben willst. Aber das kommt nicht heraus. Weil nämlich etwas anderes herauskommen soll.«
    Nikita sah tatsächlich die Karte Rußlands vor sich, wie er sie aus zerfledderten Geographiebüchern kannte, wie er sie sich ins Gedächtnis eingeprägt hatte mit all den vielfarbigen Regionen, Eisenbahnadern und blauen Flußvenen. Und erbegriff, daß er versuchte, sein Mosaik genau in diese Form zu bringen. Obwohl die Umrisse – plötzlich hörte Nikita ein hartnäckiges Dröhnen von Stimmen – in Wirklichkeit ganz anders aussehen mußten.
    Nikita vertraute sich dem Chor in seinem Inneren an und ließ all die durchsichtigen Eiswürfel los, die er in den Händen hielt. Die Geschichten zuckten auf und schwebten davon, einander überholend, zusammenstoßend und zur Seite kippend.
    Nun trug Nikita die Schicksale der Menschen, denen er auf seinem Weg begegnet war, nicht mehr in sich. Er fühlte sich leicht und leer, als hätte ihn auf einem Hügel, dessen Sonnenseite bereits getaut war, ein Frühlingswind durchlüftet.
    Da erblickte er plötzlich ohne jede Anstrengung die Silhouette, die die vereinzelten Striche bildeten. Die flache Karte wurde lebendig; all ihre Wälder atmeten, blaue Schatten huschten über verschneite Felder, schwarze Krähen schlugen mit den Flügeln, Züge näherten sich pfeifend Bahnstationen; die Karte lachte, zappelte, blinkte vor seinen Augen. Verwandelte sich in eine wolkige Gestalt, die über dem benachbarten Hügel schwebte und ihre gewaltigen Arme ausbreitete. Sie reckte sich Nikita entgegen und legte ihm ihre schwerelose Hand auf den Kopf.
    Jasja strich ihm übers Haar und sagte:
    »Siehst du, alles ganz einfach. Und du hattest Angst.«
    Nikita lächelte und spürte plötzlich, wie die Bresche, die vor vielen Jahren in seine Einsamkeit geschlagen worden war, sich schloß. Besser gesagt, sich füllte. Jasja war bei ihm. Um ihn und in ihm. Endlich so, wie sie wirklich war. Vollendet. Und er wußte, daß das nun für immer war.
    Er lag im Gefängnisbett und lächelte. Als kenne er einGeheimnis. Das man nicht ausplaudern konnte. Weil es nicht lohnte.

Swetlana Alexijewitsch
Nach der Lektüre von Natalja Kljutscharjowas Roman
»Endstation Rußland«
    Endlich melden sich in Rußland jene zu Wort, die in der neuen Zeit geboren und aufgewachsen sind – auf den schwelenden Trümmern der alten. Was wollen sie der Welt sagen? Lange hat sich die Welt vor den Russen gefürchtet. Später dann, während der kurzen Ära Gorbatschow, hat sie die Russen geliebt. Heute hat sie sie vergessen. Hin und wieder fallen sie ihr ein, bei jeder neuen Putinschen »Gas«-Attacke. Aber aus eigener Erfahrung weiß ich: Sobald ein Europäer im Gespräch mit dir erfährt, woher du kommst, nämlich von dort, aus diesen riesigen, im Grunde noch gar nicht recht von Menschen erschlossenen Räumen, stellt er dir die Frage: Wie ist es dort heute? Wie lebt man dort? Seit zweihundert Jahren lautet die russische Antwort darauf unverändert: »Mit dem Verstand ist Rußland nicht zu fassen.« Nur mit dem Herzen.
    Das stimmt. In Rußland ist alles noch so, wie es immer war: interessant, poetisch, beunruhigend. Arm und erniedrigend. Die russische Seele kennt nur eine Rettung – die russische Seele. Sollten Sie einmal in Moskau gewesen sein und sich verwundert gesagt haben, das ist aber doch Europa, so irren Sie sich. Machen Sie sich keine Illusionen. Moskau ist längst die Hauptstadt eines anderen Landes, nicht des Landes jenseits des städtischen Autobahnrings. Und in den offenen Abteilwagen, denen Natalja Kljutscharjowas Buch seinen Titel verdankt * , sitzen ganz andere Menschen. Siesind echt. Die einen können nur mit Mühe überleben und zehren von ihren Erinnerungen. Die anderen träumen von der Revolution. Die meisten sind Verlierer, die Gewinner – eine verschwindende Minderheit. Die verfluchten
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