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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Kuppel emporringelten und als Ascheschleier langsam niederschwebten.
    Und die Menschen weinten, sie verwischten die Ascheflocken auf ihren Wangen, klopften ihrem Nebenmann auf die Schulter, umarmten sich und weinten erneut, mit doppelter Kraft.
    Da erschienen die alten Frauen. Kamen und setzten sich eine neben der anderen an die Wand. Sie sahen aus wie verkohlte Windmühlen, wie die Gerippe urzeitlicher Aasgeier. Alte Frauen, die den Dorfladen gestürmt hatten in der Hoffnung, für ihre Lebensmittelkarten das Elixier der ewigen Jugend zu bekommen, ein letztes Fitzelchen Zeit zu erhaschen, ein Stück des begehrten Urstoffs.
    Alte Frauen, die sich gegenseitig totgeschlagen hatten beim Anstehen nach Makrelen. Und die selbst nach ihrem Tod einander weiter die Augen auskratzten und den Verkäuferinnen die schwarzen Finger auskugelten, wenn sie gierig nach einem glitschigen Fischschwanz schnappten.
    Denen nicht vergeben worden war und die nicht vergeben hatten. Die auf einem Klohäuschen auf der Bahnstation Akulowka vom Schlag getroffen worden und in den Schlund der Erde gestürzt waren, die Zähne gefletscht vor Bösartigkeit, die sich in den eigenen Schwanz beißt und sich dann selbst verschlingt, wild knurrend und rülpsend und giftigen Speichel sprühend.
    Die alten Frauen kamen, reihten sich an den Wänden auf und öffneten den Mund, lückenhafte Gebisse entblößend, wie man sie gewöhnlich in den Kurganen findet.
    Und die alten Frauen sprachen, die toten Fäuste gen Himmel gereckt:
    »Vergib uns unsere Sünden, du Bastard, du siehst doch, es geht uns schlecht, mach schon, alter Sack!«
    »Schenke unserer Seele Frieden«, sangen die alten Frauen näselnd, einander wiegend, die Leere in den Schlaf singend. »Wir sind alte Kommunistinnen und kennen keine Gebete, los, regeln wir’s im Guten, mach, daß das Echo aufhört, daß wir aufhören, wie man es uns erklärt hat in den vielen Stunden Politunterricht, Parteigeschichte und dialektischer Materialismus. Amen!«
    Doch der Haß nagelte die Alten an der Erde fest. Sie scharrten mit ihren langen, säbelförmigen Krallen auf dem Boden herum und erschienen hartnäckig ihren Enkeln im Traum, damit die eine Kerze für ihr Seelenheil aufstellten.
    Doch die Alten glaubten nicht an die Seele und verstanden sich nicht aufs Bitten. Sie drohten nur, spuckten Schimpfworte und erfüllten die Träume mit Gestank und Elend. Und die Enkel erwachten in heißem Schweiß, verhedderten sich in der Bettdecke und griffen nach einer Zigarette. Und konnten anschließend lange nicht wieder einschlafen.
    »Nein! Nein! Nein!«, schrie Nikita, der an den Reihen der Alten entlang rannte, in den dichten Schichten uralter Bosheit schier verglühend.
    »Nicht so! Nicht so! Nicht so!« Betäubt bewegte er die Lippen im Takt mit dem ersterbenden Herzen und schluckte Tränen.
    Die Alten durchbohrten ihn mit ihren irren Augen und stießen Flüche aus.
    »Verzeih! Verzeih! Verzeih!« flüsterte Nikita, nahezu bewußtlos, und begriff plötzlich, daß er das nötige, das eine, richtige Wort gefunden hatte.
    »Verzeih! Verzeih! Verzeih!« Und eine alte Frau nach der anderen verschwand, und die Luft wurde heller und das Atmen leichter.
    »Ruhig, ruhig, beruhige dich!« sagte eine weiße Wolke mit Roschtschins Stimme, und Nikitas Stirn wurde kühl und naß.
    «Roschtschin!« rief Nikita mit letzter Kraft, wie durch Watte. »Das ist ein Gebet für alle, hilf mir, das bewältige ich nicht allein, Roschtschin, ich schaffe es nicht mehr!«
    Die Roschtschin-Wolke löste sich auf.
    Und wieder strömten ihm Reihen schwarzer alter Frauenentgegen. Und für jede sprach Nikita das Wort, dem sich ihre zornige Zunge verweigerte, das ihre Lippen, ans Schimpfen gewöhnt, nicht formen mochten.
    »Verzeih! Verzeih! Verzeih!«
    »Verzeih, Bruder«, sagte der OMON-Soldat Wasja und versetzte Nikita eine kräftige Ohrfeige. »Das hier ist eine Gelegenheit, in die Geschichte einzugehen, aber du wirst in die Bewußtlosigkeit sinken!« Wasja schlug noch einmal zu, hob Nikita kurz an, schüttelte ihn und lehnte ihn an die Wand.

33
    Wieder sah Nikita den Saal der Staatsduma. Freudig erregte Menschen eilten in verschiedene Richtungen. Einige sprangen über die samtenen Abgeordnetensessel, ein junger Mann mit einer roten Armbinde lief sogar über die Rücklehnen. Jemand räusperte sich in ein Mikrophon, sagte verwirrt »eins, eins, eins« und lachte unpassend.
    »Gleich wird der Teilnehmer der Volkswehr sprechen, General Genosse, ich
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