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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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»die Revolution der Arbeiter und Bauern zu unterstützen« und »Solidarität mit dem heldenhaften sowjetischen Volk« zu bekunden.
    »Eine Zeitmaschine!« sagte Roschtschin, dem griechischen Genossen lauschend.
    »Womit hat das Ganze eigentlich angefangen?« fragte Nikita, der an der frischen Luft allmählich seine Denkfähigkeit wiedererlangte.
    Junker und Roschtschin lachten wie auf Kommando laut los. Nikita verstand überhaupt nichts, lächelte aber aus Solidarität ebenfalls. Was die beiden noch mehr erheiterte.
    »Nun seht euch bloß unseren bescheidenen Helden an! Er hat keine Ahnung! Womit das Ganze angefangen hat? Wer hat denn den Funken gezündet, aus dem die Flamme geschlagen ist?« spottete Junker, heulend vor Lachen.
    Roschtschin beruhigte sich als erster und holte Luft.
    »Mit dir hat das Ganze angefangen!« sagte er, und die Brille rutschte ihm auf die Stirn. Er wischte sich die Tränen ab. »O nein, ich kann nicht mehr, du machst mich fertig mit deinen Fragen!«
    »Mit wem?« fragte Nikita hilflos. Er fühlte sich, als hätteer partiell das Gedächtnis verloren. Ein äußerst unangenehmes Gefühl.
    Junker krümmte sich erneut und ging in die Hocke, sich den Bauch haltend.
    »Na, mit dir, mit wem denn sonst!« sagte Roschtschin im Ton eines Lehrers, der seinen Schülern zum hundertsten Mal erklärt, was unechte Brüche sind. »Mit deinem ›Kreuzzug der Alten‹. Der ist in allen Zeitungen erschienen. Dann bist du passenderweise in Hungerstreik getreten, und plötzlich war der Teufel los. Während du über die Risse in der Decke spaziert bist und dich mit Nikolai Gumiljow unterhalten hast, haben mich sämtliche Paparazzi mit Anrufen bombardiert und nach Einzelheiten deiner Biographie gefragt. Von einem Tag auf den anderen warst du plötzlich ein Nationalheld!«
    »Nun hör aber auf!« wehrte Nikita ungläubig ab, schlug aber vorsichtshalber den Jackenkragen hoch und zog sich die Mütze tief über die Augen.
    Wieder lachte Junker los.
    »Ein schönes Ölgemälde: Wladimir Uljanow inkognito beim Sturm auf das Winterpalais! Du brauchst dich gar nicht zu verstecken, Alter, du wirst sowieso erkannt! Und dann mußt du auf einen Panzerwagen steigen und eine Rede halten! ›Genossen! In dieser schweren Stunde unserer Zeit …‹ Soll ich dir beim Formulieren helfen?«
    Inzwischen war ein junger Mann mit Mittelscheitel und irrem Blick auf die Blumentröge gestiegen. Immer mehr Menschen versammelten sich vor der Duma. Einige hatten Zelte mitgebracht und versuchten, sie mitten auf der Straße aufzustellen. Vereinzelte Gruppen revolutionären Jungvolks drängten sich um ihre Banner und schrien Losungen, wobei sie die Individuen der anderen Rudel mißtrauisch beäugten.
    »Über Rußland schwebt eine rote Phalluskonstruktion!« krächzte der Junge mit dem Mittelscheitel infernalisch. »Die Vertikale der Macht! Sie ist rot vom Blut russischer Jungfrauen und Greise!«
    »Warum ist die Revolution bloß immer ein Sammelbecken für Bedürftige und Beschränkte?« fragte Junker in seinem üblichen verächtlichen Tonfall.
    »Sie sind vom Leben benachteiligt und wissen nicht, wem sie die Schuld daran geben sollen«, sagte Roschtschin versöhnlich. »Und hier ist alles so schön klar: Sie sind die unterdrückten Massen, an allem Unglück sind die transnationalen Aktiengesellschaften und der verfluchte Kapitalismus schuld. Aber diesmal ist das anders. Diesmal ist das ganze Land auf der Straße. Wir drei zum Beispiel.«
    Plötzlich verschluckte sich der heisere Redner und starrte entsetzt auf etwas, das sich hinter der Menge befand. Auch der Alte hatte etwas entdeckt und sofort aufgehört, seine Fahne zu schwenken. Der Adler erschlaffte. Wie eine Welle lief ein Wort durch die Reihen: »OMON«. Die Menge wich instinktiv zur anderen Seite aus. Der junge Mann mit dem Mittelscheitel und der weißbärtige Fahnenträger sprangen hastig von den Blumentrögen und tauchten in der Volksmenge unter. Nikita drehte sich um und sah weder Roschtschin noch Junker. Die Menge trug ihn noch ein paar Meter weiter und verharrte plötzlich wie angewurzelt.
    Auch vorn waren schwarz uniformierte Männer mit Plastikschilden und Schutzhelmen. Die Menge rückte zusammen und erstarrte. Durch die Lücken zwischen den Schilden glotzten MPi-Mündungen sie an.
    Eine blutjunge Blumenverkäuferin, die unversehens mitten ins Geschehen geraten war, streckte den Kopf aus dem Laden und schrie: »O Gott, o Gott, ich habe nichts damit zutun! Laßt mich hier raus.
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