Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
Vom Netzwerk:
zusammen wie ein Blatt Papier und verschwand. Einen kurzen Moment lang sah er die vertraute Decke seines Krankenzimmers, schüttelte dieses Trugbild jedoch ab und tauchte wieder auf.
    Nieselregen tropfte ihm in den Kragen, vor ihm lag die bleigraue Moskwa. Er saß auf dem Asphalt, an ein Rad des Wagens gelehnt. Junker und Roschtschin standen ein Stück abseits und rauchten. Der Junge mit der schwarzen Kapuze war verschwunden.
    Wieder lief eine Horde junger Radikaler vorbei. Sie wirkten weniger verwirrt als die zuvor, denn sie hatten einen Anführer. An ihrer Spitze lief mit energischen Schritten ein entschlossener Jüngling, etwas älter als die übrigen, rief drohend »Unsere Heimat ist die UdSSR!« und schwang die Faust.
    Die Horde stoppte neben Junkers Wagen. Der Anführer der Radikalen musterte mißtrauisch die drei Insassen und ihr Transportmittel, fand nichts daran auszusetzen und führte seine Abteilung weiter, um Feinde der Revolution aufzuspüren.
    Vor dem Weißen Haus war auch nichts los. Die Menschen liefen ziellos umher, fragten einander »Gibt’s was Neues?« und wußten nichts mit sich anzufangen, denn es gab nichts Neues. Nur ein munterer Rentner mit Ziehharmonika war ganz bei der Sache. Er saß auf einer Holzkiste am Fuß des Denkmals für die Revolutionäre von 1905 und sang selbstgereimte Agitprop-Vierzeiler.

    Putin legt an Stimmen zu,
    Sarg an Sarg sich reiht!
    Sind im Grab erst ich und du,
    ist er vom Volk befreit!

    Nach und nach sammelte sich allerhand herrenloses Volk um den Ziehharmonikaspieler. Zwei untersetzte Männer, wie Bobtschinski und Dobtschinski,stampften mit den Füßen und versuchten mitzusingen, beschränkten sich aber auf »la-la-la-la«, weil sie den Text nicht kannten. Die beiden hatten aus Anlaß der Revolution schon am Morgen einen Kleinen zur Brust genommen und waren nicht zur Arbeit gegangen. Nun waren sie aufgekratzt.
    Ältere Frauen an der anderen Flanke erörterten halblaut die Preise für kommunale Dienstleistungen und hofften auf Besserung. Dann holte eine von ihnen belegte Brote aus ihrer Tasche und verteilte sie.
    Auf dem Fahrdamm machte ein junger Fotograf mit Palästinensertuch Verrenkungen auf der Suche nach einemgünstigen Blickwinkel. Sein Gesicht strahlte vollkommenes Glück aus. Er hielt das erste historische Ereignis fest, das er persönlich miterleben durfte.
    Plötzlich kam ein schweißnasser Mann mit einem Megaphon auf die Gorbaty-Brücke gerannt. Er stoppte und schwankte – es schien, als würde er gleich eine wichtige Nachricht verkünden und dann tot zusammenbrechen wie der Läufer von Marathon. Der Mann hielt sich das Megaphon vor den Mund und schrie:
    »Es geht los!«
    Alle Augen hefteten sich gierig auf den Boten.
    »Sturm auf die Staatsduma!« stieß er hervor und schnaufte begeistert. In die Menge kam Bewegung. »Alle, die bei Kräften sind – nichts wie hin! Aber die Rentner gehen lieber nach Hause, vorsichtshalber! Was wollt ihr überhaupt hier, mit euren belegten Broten?! Wenn nun geschossen wird? Meint ihr, die lassen sich von euren Orden beeindrucken? Babuschki! Geht wieder nach Hause!«
    Die Rentnerinnen murrten empört, und der Mann schob sich das Megaphon unter den Arm und rannte weiter. Der Alte mit der Ziehharmonika intonierte »Unsterbliche Opfer«. Junker ließ den Motor an. Sie luden den Fotografen ein und fuhren ins Zentrum, zum Ochotny Rjad. Die ganze Fahrt über hing der junge Mann mit seinem Fotoapparat bis zur Hüfte aus dem Fenster und rief alle Passanten zum Sturm auf die Duma auf. Die Menschen, erschöpft von der revolutionären Untätigkeit, rannten erfreut hinter dem Auto her.
    Vor der Staatsduma empfing sie ein Zirkuszelt. Als wäre das hier keine Revolution, sondern eine ganz normale Kundgebung gegen das »volksfeindliche Regime«. Auf einem Podest aus zusammengeschobenen quadratischenBlumentrögen standen kostümierte Gestalten. Ein Greis mit langem, im Wind flatterndem Bart schwenkte hingebungsvoll ein Samtbanner mit doppelköpfigem Adler. Das goldgestickte Wappentier hackte immer wieder aggressiv nach den Umstehenden. Links neben dem bärtigen Monarchisten ragte ein Mann in die Höhe, der aussah wie der Chef der Gewerkschaft genialer Komponisten: romantische graue Mähne und ein elegant über die Schulter geworfener schwarzer Schal. Als der Bohémien und Virtuose das Megaphon erkämpft hatte, stellte sich heraus, daß er keineswegs Musiker war, sondern ein griechischer Kommunist, der nach Rußland gekommen war, um
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher