Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
Vom Netzwerk:
Gesicht vom Tschifir.
    »Genau, Mann!« rief Tremor freudig und schlug sich so heftig mir der Faust gegen die Stirn, daß sich auf der Nasenwurzel ein roter Fleck bildete.
    Nikita tauchte aus seinen Träumen auf, als er in den Flur getragen wurde. Tremor, ein Auge auf das Guckloch gepreßt, sagte zu Aljoscha:
    »Sie haben wieder einen fertiggemacht, die Schweine! Da schleppen sie einen Toten raus, den verbuddeln sie im Innenhof, und kein Hahn kräht mehr nach ihm.«
    Nikita wurde tatsächlich auf den Hof hinaus getragen. Eine Weile betrachtete er den Himmel, der in einem Eisennetz schaukelte. Dann sah er die weiße Decke vor sich, und es roch intensiv nach Medikamenten.

31
    Eine weiße Wolke neigte sich über Nikita und nahm die Gestalt Roschtschins an. Im weißen Krankenhauskittel sah er aus wie der Mitarbeiter eines Forschungsinstituts auf einem verblaßten Schwarzweißfoto aus der Zeitschrift Ogonjok , Jahrgang 1979. Als der positive Held der sowjetischen Fotoreportage Nikita erblickte, runzelte er die Stirn, rückte seine Brille zurecht und sagte streng:
    »So. Vielleicht machst du mal Schluß mit deiner Show? Dein Hungerstreik ist nicht mehr aktuell. Ab heute wirst du wieder essen wie ein normaler Mensch und nicht mehr den armen Gogol auf dem Totenbett mimen. Rußland brauchtjetzt gesunde und starke Kämpfer, keine Halbtoten, die der Wind umbläst. Was reißt du die Augen so auf! Sperr lieber den Mund auf und iß deine Bouillon! Hast du’s nicht gehört, wir haben Revolution! Lagerfeuer auf dem Roten Platz, Zelte auf dem Manege-Platz! Das ganze Land ist auf den Barrikaden, nur du liegst hier rum! Marsch zurück ins Leben, sonst wird ohne dich Geschichte gemacht!«
    «Roschtschin!« sagte Nikita und wunderte sich über seine eigene Stimme. »Roschtschin! Wir wissen doch beide: Wenn du mich jetzt belügst, dann werde ich dir nie wieder glauben!«
    Roschtschin schluckte, richtete sich auf und sah Nikita ernst an.
    »Habe ich dir je Anlaß gegeben, an mir zu zweifeln? Nein. Also nimm dich zusammen und werde gesund. Die Revolution wartet auf dich! Du glaubst mir nicht? Weißt du, warum sie dich aus dem Gefängnis hierher verlegt haben? Wegen der Amnestie! Die alte Regierung läßt die politischen Häftlinge frei, weil sie hofft, damit den russischen Aufstand zu besänftigen. Doch sinnlose und erbarmungslose Rebellion ist durch nichts aufzuhalten. Wir müssen dort sein, verstehst du, um die Menge zur Vernunft zu bringen, solange sie sich noch friedlich verhält, denn wenn sie in fremde Hände gerät, wird sie alles niederwalzen!«
    Nikita sah Roschtschin an, seufzte und glaubte ihm schließlich. Elastische Schläuche wurden an seinen Körper angeschlossen, durch die eine Nährlösung in ihn hineinfloß. Dann folgte ein Dämmerzustand von unbestimmter Dauer, der an einem sonnigen Morgen endete, als Nikita die Augen öffnete und sich vollkommen gesund fühlte. Er sprang aus dem Bett und riß sich das wild wuchernde Gewirr von Plastikschläuchen aus den Armen. Er hatte Angst, zu spät zu kommen. Im halbdunklen Flur stieß er auf Roschtschin.
    »Los, schnell! Nichts wie hin!« rief Nikita im Flüsterton, weil er befürchtete, die Ärzte würden angelaufen kommen und ihn ans Bett fesseln.
    »Nichts wie hin«, antwortete Roschtschin ebenso konspirativ.
    Am Krankenhaustor erwartete sie Junker in seinem klapprigen, mit roten Fahnen geschmückten Wagen.
    »Junker, wo kommst du denn her?« fragte Nikita mißtrauisch. Er vermutete eine Falle. »Du bist doch in Gorki?«
    »Du bist lustig! Ich kann doch nicht auf dem Land rumsitzen, wenn hier die Luft brennt«, erwiderte Junker auffallend unbekümmert und ließ den Motor an.
    »Junker!« Nikita stemmte sich gegen den Wagen und wollte partout nicht einsteigen. »Wieso die roten Fahnen?! Du haßt doch die Kommunisten!«
    »Aber Großmutter, warum hast du so große Ohren!« erwiderte Junker lachend. »Was soll man machen, wenn es in Rußland nun mal noch keine andere Farbe für die Revolution gibt?! Steig endlich ein!«
    Nikita zweifelte bis zum Schluß. Das Ganze lief allzu glatt. Doch als am Ende der Twerskaja die ersten echten Barrikaden auftauchten, gab er sich geschlagen. Auf den schrägen Dächern der als Straßensperre fungierenden Sprengwagen balancierten fröhliche Menschen. Sie hielten sich aneinander fest, lachten und schauten zum Kreml hinüber. Junker hielt an und kurbelte das Wagenfenster herunter.
    Eine Horde minderjähriger Radikaler rannte am Auto vorbei. Jeder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher