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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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meine, Genosse General, ich meine, Oberst Kukoboi.«
    »Russen! Brüder …«
    Oberst Kukoboi war gutgelaunt und trug eine zottige Pelzmütze. Der rechte Arm des Volkswehrmannes hing in einem schmutzigen Verband quer vor seiner Brust. Neben ihm auf dem Fußboden stand ein silberner Teller mit dem Kopf von Aslan Maschadow. Den Kopf beachtete niemand, alle waren ganz im Bann von Kukobois Rede. Nikita ging näher heran. Plötzlich öffnete der Kopf die Augen und sagte, vollkommen klar in den Saal blickend:
    »Es wird keinen Frieden geben!«
    »Es wird keinen Frieden geben!« seufzte der junge Rebell Mowsar, der neben dem Silberteller hockte.
    »Es wird keinen Frieden geben!« wiederholte Gardefähnrich Gennadi Uminski, zündete sich eine Zigarette an und hielt Mowsar das Feuerzeug hin.
    »Ich gehe mal raus, eine rauchen, ich glaube, er ist eingeschlafen«, kam von irgendwoher Roschtschins Stimme.
    Nikita unternahm den verzweifelten Versuch, sich zu orientieren, zu erkennen, was real war und was nicht. Da sah er Jasja. Sie trug ein langes Kleid, war barfuß und hatte helles, offenes Haar. So kannte Nikita sie nicht. Auch Kleider hatte sie nie getragen. Jasja war erstaunlich ruhig.
    Nikita ging zu ihr und strich ihr verwirrt übers Haar. Jasja sagte traurig:
    »Das ist meine echte Haarfarbe. Du hast sie nie gesehen.«
    Ringsum war es sehr still. Nikita bemerkte beiläufig, daß er und Jasja in einem rund zulaufenden Flur mit Bullaugen und Neonlampen an der Decke standen.
    Wohin ist alles verschwunden? Wo sind all die Leute? dachte Nikita desinteressiert. Wahrscheinlich falle ich mal wieder in Ohnmacht.
    »Das ist keine Ohnmacht«, sagte Jasja. »Das ist viel besser.«
    »Nämlich?«
    »Wirst du gleich verstehen.«
    Und Nikita verstand. Nicht mit normalen, linearen Gedanken. Aber auf Anhieb und umfassend. Er spürte plötzlich in sich das Leben aller Menschen, die er kannte und um die er Angst hatte. Und wußte, daß er sich nicht mehr ängstigen mußte. Weil sich nun alles gelöst hatte. Die gebrochenen Schicksale waren geheilt. Die verrenkten Seelenwieder eingerenkt. Wer Liebe gesucht hatte, hatte sie gefunden. Wer Freiheit gewollt hatte, hatte sie bekommen. Selbst Unglück und Schmerz hatten sich als Brücken zum Glück zu erkennen gegeben. Und waren verziehen.
    Und die Menschen, früher durch ihre hektischen, ihnen wesensfremden Aktivitäten kaum zu unterscheiden, hatten innegehalten und waren sie selbst geworden. Sie schauten sich an und konnten kaum glauben, daß alles so einfach war, und freuten sich, daß es so gekommen war.
    Nikita konnte jedes beliebige Schicksal herausgreifen und in allen Einzelheiten betrachten. Zum Beispiel erfuhr er, daß Aljas Stiefvater, der sie in ihrer Jugend vergewaltigt hatte, gestorben war. Alja war zu ihrer eigenen Überraschung zur Beerdigung gefahren und in Odessa geblieben, nachdem sie sich mit ihrer ganzen vielköpfigen Verwandtschaft versöhnt hatte.
    Nikita sah Alja auf einem kleinen gepflasterten Platz am Anfang der Deribassowskaja-Straße stehen, wo sie die verständigen Odessaer Katzen mit Fischabfällen aus einer Tüte fütterte. Die Katzen machten einen Buckel, wedelten mit dem Schwanz und nahmen aristokratisch die glitschigen Happen zwischen die Zähne. Alja schaute abwechselnd auf die Katzen und zur Sonne und war vollkommen glücklich. Im schwarzen Bauch des Briefkastens wartete wieder ein Brief von Aljoscha. Er versprach, bald zu kommen.
    Taïssija Iossifowna, eine schwere Lehrerinnenbrille auf der Nase, las in einem dicken Heft – Wanjas erstem Roman. Und verbesserte aus alter Gewohnheit mit Rotstift grammatikalische Fehler. Wanja, vor sich hin murmelnd und keuchend, schleppte einen vollen Wassereimer vom Brunnen, stellte ihn Taïssija Iossifowna in die Diele und setzte sich auf die Vortreppe, um nachzudenken. Die Sonne brannte. UndVater Andrej lief, nachdem er sich vergewissert hatte, daß ihn niemand sah, hüpfend zum Kuhstall, schwenkte die Arme und sang aus vollem Hals ein Frühlingslied.
    Junker und Grischa saßen rittlings auf dem Kirchendach und befestigten Dachplatten. Sie beobachteten Vater Andrejs Frühlingshüpfer und lachten, mit den Knien mußten sie das heiße Blechdach umklammern, um nicht herunterzufallen.
    Und die Melkerin Nastjona legte den Kopf in den Nacken, schirmte mit der Hand die Augen gegen die blendende Sonne ab, schaute den beiden von der Treppe des Kolchosbüros aus zu und überlegte träge, in wen von beiden sie sich verlieben
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