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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes
Autoren: Ingrid Strobl
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servierte. Höhere Töchter, die das ererbte Geld in Kunst und Antiquitäten investierten. Gepflegt, gebildet, feine Klamotten und ebensolche Manieren, aber immer einen Hauch von oben herab. Wenn ich seither etwas ums Verrecken nicht verknusen kann, dann sind es höhere Töchter.
    »Sie haben sich sicher gewundert«, meldete sich Frau Grimme zu Wort, nachdem sie einen Schluck von ihrem Kaffee genommen hatte, »warum ich Sie ausgerechnet zum Bahnhof bestellt habe.«
    Wohl wahr.
    »Ich will es Ihnen erklären. Und vielleicht werden Sie dann feststellen, dass ich gar nicht die geeignete Gesprächspartnerin für Sie bin.«
    Sie klang traurig, was mich irritierte. Es machte sie mir einen Moment lang sympathisch.
    Sie nahm noch einen Schluck Kaffee. Ich fragte, ob es ihr was ausmachen würde, wenn ich rauchte. Sie winkte lächelnd ab. Meinte, sie habe selbst mal geraucht und rieche es noch gerne. Noch ein Pluspunkt für sie.
    »Ich habe einen Jungen aufgenommen«, fing sie nun mit ihrer Geschichte an, »der schwer traumatisiert ist. Er wurde zu Hause vernachlässigt, misshandelt und … Nun ja. Ich hatte bereits ein Mädchen zur Pflege, dem es ähnlich ergangen ist, und die Kleine hat sich bei uns gut entwickelt. Wir mussten sie nur leider wieder abgeben.« Sie hielt inne und wischte mit der Hand über den Tisch. Schließlich sah sie mich an und fuhr fort. »Ihre Mutter hat sich von dem Mann getrennt. Sie hat eine Therapie gemacht und eine Fortbildung im Kinderschutzbund und was weiß ich noch alles, auf jeden Fall hat das Jugendamt beschlossen, sie kann das Kind zurückhaben.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das der Kleinen guttut.« Und dann sehr leise: »Sie war glücklich bei mir. Und ich habe sie geliebt wie meine eigene Tochter.«
    Ihre Augen schimmerten verdächtig. Ich schwieg. Was sollte ich schon sagen? Sie kramte ein Tempotuch aus ihrer riesigen Handtasche und schnäuzte sich. Warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Ich lächelte beschwichtigend.
    »Meine Tochter«, sagte sie schließlich, »ist gestorben, als sie neun Jahre alt war. Leukämie.«
    »Oh Gott, das tut mir leid«, murmelte ich. Und meinte es auch so.
    Der junge Russe, ich nahm jedenfalls an, dass er Russe war, spielte jetzt ein herzzerreißendes Largo.
    »Ist das nicht verrückt?«, flüsterte Frau Grimme. »Als ob er es für mich spielt. Und für mein Kathrinchen.« Sie stand auf. Ging zu dem Violinisten hinüber und warf ihm einen Schein in den Becher. Ich leistete ihr innerlich Abbitte.
    Als sie sich wieder an den Tisch setzte, gab sie sich erkennbar einen Ruck. Sie beugte sich etwas zu mir vor und legte los:
    »Mein kleines Mädchen«, sie sah mich forschend an, »das Pflegekind, von dem ich Ihnen gerade erzählt habe …« Sie brach ab. »Könnte ich eine von Ihren Zigaretten haben?«
    »Sind Sie sicher, dass Sie wirklich wieder anfangen wollen?« Ich hatte schon ein paarmal aufgehört und dann in kritischen Situationen Zuflucht bei den Scheißglimmstängeln gesucht. Mit dem Effekt, dass ich wieder bei mindestens zwanzig täglich gelandet war.
    Sie lächelte. »Nein. Sie haben recht. Danke.«
    Ich lächelte zurück.
    »Sie hat mich angerufen. Sie hat gesagt, sie will nicht bei ihrer Mama bleiben. Die hat sie nicht lieb.« Sie griff nach dem Tempotuch. »Sie will wieder zu mir. Ich habe ihr gesagt, dass das so leider, leider nicht geht, dass sie sich an das Jugendamt wenden muss, aber sie wollte mich wenigstens sehen. Sie sagte, sie würde nach der Schule häufig mit ihren Freundinnen zum Bahnhof gehen. Stellen Sie sich vor, so ein kleines Mädchen läuft auf dem Bahnhof herum! Ich darf gar nicht dran denken, was ihr da alles zustoßen kann. Aber deshalb wollte ich Sie dort treffen. Ich war in den letzten Tagen ständig am Bahnhof und hinten am Breslauer Platz unterwegs, immer in der Hoffnung, dass sie mir über den Weg läuft.«
    Wieder glänzten ihre Augen.
    »Jetzt überlege ich, ob ich das Jugendamt einschalten soll.« Sie sah mich fragend an. Aus der Tür zum Funkhaus kam ein Kollege und winkte mir zu. Ich schaute erschrocken auf die Uhr. In zwanzig Minuten musste ich im Schnitt sein.
    »Sie haben es eilig, nicht wahr?«
    Ich nickte, sagte aber, sie solle die Geschichte zu Ende erzählen.
    »Viel mehr gibt es nicht«, meinte sie. »Ich bin bloß so unsicher. Soll ich mich tatsächlich an das Jugendamt wenden? Meine Sachbearbeiterin ist in Urlaub, ihre Vertretung kenne ich nicht, und die denkt
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