Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elric von Melnibone

Elric von Melnibone

Titel: Elric von Melnibone
Autoren: Michael Moorcock
Vom Netzwerk:
betrachtete.
    Der Meister war groß und sehr hager und wirkte wie ein Skelett in seinem fleckigen weißen Gewand. Seine Lippen waren dünn, seine Augen wie Schlitze, seine Finger schlank, sein Haar schütter, und das Skalpell in seiner Hand war beinahe unsichtbar, bis auf die Augenblicke, da es im Licht des Feuers aufblitzte, das in einer Grube auf der anderen Seite der Höhle loderte. Der Meister wurde Doktor Jest genannt, und die Kunst, die er hier praktizierte, war weniger eine kreative als eine darstellende (obwohl er sich mit einiger Überzeugungskraft für das Gegenteil aussprach), die Kunst, anderen Menschen Geheimnisse zu entreißen. Doktor Jest, der Erste Verhörmeister Melnibones. Bei Elrics Eintreten drehte er sich geschmeidig um, das Skalpell zwischen dem dünnen Daumen und dem dünnen Zeigefinger der rechten Hand haltend; so stand er in erwartungsvoller Pose, beinahe wie ein Tänzer, und machte eine tiefe Verbeugung.
    »Geliebter Herrscher!« Seine Stimme klang ebenfalls dünn. Sie hauchte aus seiner dünnen Kehle empor, als wollte sie der Enge entrinnen, und man fragte sich unwillkürlich, ob man die Worte überhaupt gehört hatte, so schnell waren sie gekommen und wieder verklungen.
    »Doktor! Sind das die Südländer, die heute früh gefangengenommen wurden?«
    »In der Tat, mein Herr.« Eine neue tiefe Verbeugung. »Zu deinem Vergnügen.«
    Mit kühlem Blick betrachtete Elric die Gefangenen. Er hatte kein Mitleid mit ihnen. Es waren Spione. Ihr Vorgehen hatte sie in diese Situation geführt. Sie hatten gewußt, was sie erwartete, wenn sie erwischt wurden. Doch einer von ihnen war ein Jüngling und ein anderer offenbar eine Frau, wenngleich sich alle so sehr in den Ketten wanden, daß man das nicht auf den ersten Blick feststellen konnte. Ein Jammer. Im nächsten Augenblick schnappte die Frau mit ihren restlichen Zähnen nach ihm und fauchte: »Dämon!«
    Elric trat einen Schritt zurück und sagte:
    »Haben sie dir verraten, was sie in unserem Labyrinth wollten, Doktor?«
    »Sie quälen mich noch mit bloßen Andeutungen. Sie haben einen ausgeprägten Sinn für das Dramatische, das weiß ich zu schätzen. Ich würde sagen, sie sind hier, um einen Weg durch das Labyrinth auszukundschaften, dem eine Armee von Angreifern später folgen könnte. Die Einzelheiten haben sie bisher für sich behalten. Darum geht es bei diesem Spielchen. Wir alle kennen die Regeln.«
    »Und wann werden sie es dir sagen, Doktor Jest?«
    »Oh, recht bald, mein Lord.«
    »Wir sollten auf jeden Fall in Erfahrung bringen, ob wir mit Angreifern rechnen müssen. Je eher wir das wissen, desto weniger Zeit brauchen wir, um den Angriff dann abzuschlagen. Bist du nicht auch dieser Meinung, Doktor?«
    »O ja, mein Lord.«
    »Schön.« Der Zwischenfall ärgerte Elric. Das Verhör hatte ihm die Freude an dem Ausritt verdorben, konfrontierte ihn viel zu schnell wieder mit seinen Pflichten.
    Doktor Jest kehrte zu seinen Opfern zurück, streckte die freie Hand aus und ergriff fachgerecht die Geschlechtsteile eines männlichen Gefangenen. Das Skalpell blitzte auf. Ein Stöhnen folgte. Doktor Jest warf etwas ins Feuer. Elric setzte sich in einen Stuhl, den man ihm zurechtstellte. Die Rituale, die mit der Beschaffung von Informationen einhergingen, langweilten ihn eher, als daß sie ihn anwiderten; die schrillen Schreie, das Klappern der Ketten, das dünne Flüstern von Doktor Jest - das alles trug dazu bei, das Wohlgefühl zu vertreiben, das ihn noch beim Eintritt in die Höhle erfüllt hatte. Aber es gehörte zu seinen königlichen Pflichten, solchen Ritualen beizuwohnen, so auch diesem, bis ihm die Information übergeben wurde und er seinen Ersten Verhörmeister beglückwünschen konnte, um anschließend Befehle zu geben, wie dem Angriff zu begegnen war. Später mußte er sich bestimmt noch mit Admirälen und Generälen beraten, wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch, mußte Argumente abwägen und die Verteilung von Männern und Schiffen festlegen. Mit einem kaum unterdrückten Gähnen lehnte er sich zurück und sah zu, wie Doktor Jest Finger und Skalpell, Spitzen, Zangen und Klammern über die Körper tanzen ließ. Schon bald dachte er an andere Dinge, an philosophische Probleme, mit denen er sich schon seit längerer Zeit beschäftigte.
    Nicht daß Elric unmenschlich war; aber er war trotz allem ein Melniboneer. Seit seiner Kindheit kannte er solche blutigen Szenen. Er hätte die Gefangenen nicht retten können, selbst wenn er gewollt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher