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Elfenzorn

Elfenzorn

Titel: Elfenzorn
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nichts dagegen.«
    Pia ignorierte ihn. »Onkel wer?«, fragte sie.
    »José Peralta, unser Onkel«, antwortete Max. »Schon mal von ihm gehört?«
    Pia starrte ihn an. »José … Peralta?«, wiederholte sie stockend.
    »Ganz genau der«, bestätigte Toni. »Er brennt richtiggehend darauf, sich mit dir zu unterhalten, Süße. So sehr, dass er Max und mich dazu verdonnert hat, die ganze Nacht draußen im Wagen zu sitzen und diese Bruchbude zu beobachten. Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, dass du tatsächlich so bescheuert bist, hier aufzukreuzen.«
    Daher also das Gefühl, beobachtet zu werden, dachte Pia. Sie hatte es sich nicht nur eingebildet. Sie hatte nur in die falsche Richtung gesehen.
    »Er will nur mit dir sprechen, das ist alles«, sagte Max. »Wenn du vernünftig bist, dann brauchst du keine Angst vor ihm zu haben.«
    Nein, natürlich nicht, dachte Pia. Wer hatte schon Angst vor der Peralta-Familie? Außer den gesamten Favelas und noch ungefähr einer weiteren halben Million Einwohner Rio de Janeiros. Vielleicht auch einer ganzen. Eine Sekunde lang überlegte sie ernsthaft, in die Schatten zu flüchten und so weit wie nur irgend möglich von hier zu verschwinden, entschied sich aber dann dagegen. Dieser Ausweg blieb ihr immer noch. Das Überraschungsmoment würde nur einmal funktionieren und war zu wertvoll, um es bei der erstbesten Gelegenheit zu verschwenden. Und solange diese beiden Kerle keine Waffen zogen (und dabeiweiter als fünf Meter von ihr entfernt waren), stellten sie keine wirkliche Gefahr für sie dar.
    Solange Pia sie nicht für so harmlos hielt, dass sie sie vollkommen ignorierte und sich aus lauter Arroganz von ihnen erschießen ließ, hieß das.
    »Und was … will euer Onkel von mir?«, fragte sie. Das Stocken in ihrer Stimme kam daher, dass ihr Hals noch immer erbärmlich wehtat, aber sie hasste sich trotzdem dafür.
    »Das fragst du jetzt nicht im Ernst!«, ächzte Toni. »Und da behaupte noch mal einer, Blondinenwitze wären übertrieben!«
    Max warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, hörte auf, an seiner Nase herumzutupfen, und betrachtete das blutgetränkte Taschentuch in seiner Hand einen Augenblick lang stirnrunzelnd, bevor er es mit einem Achselzucken zusammenknüllte und fallen ließ. Offenbar hatte er noch nie etwas von DNA-Analysen gehört. »Das wird er dir dann schon selbst sagen«, sagte er. »Wir sollen dich nur zu ihm bringen. Und es wäre wirklich klug von dir, wenn du einfach mitkommen und keine Dummheiten versuchen würdest. Selbst wenn du uns entkommst … wo willst du schon hin?«
    Pia überlegte noch einen Moment angestrengt. José Peralta war so ungefähr der letzte Mensch auf der Welt, den sie gerade sehen wollte, aber Max hatte unglücklicherweise recht. Die Peralta-Familie war zwar der kleinste der unterschiedlichen Mafia-Clans, die die Favelas unter sich aufgeteilt hatten, aber auch eine kleine Mafia-Familie war immer noch groß , und ihr Arm reichte weit. Sie konnte sich nicht ernsthaft einbilden, ihnen auf die Dauer zu entwischen. Und auch die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, schützte nicht gegen eine Pistolenkugel aus dem Hinterhalt.
    »Darf ich mir wenigstens noch etwas anziehen?«, fragte sie.

II
    J osé Peralta hatte seinen sechzigsten Geburtstag schon hinter sich gehabt, als sie noch ein Kind gewesen war, sah aber immer noch aus wie Mitte fünfzig und hatte zumindest eins mit Esteban gemein: ebenso viele Kilo Übergewicht. Vielleicht war das auch das Geheimnis seines scheinbar so jung gebliebenen Äußeren, überlegte Pia, während sie immer unbehaglicher auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen begann und darauf wartete, dass irgendjemand das unbehagliche Schweigen brach, das seit ihrem Eintreten (vor gut fünf Minuten) hier drinnen herrschte: Seine Haut war über all dem Fett einfach zu fest gespannt, um Falten zu schlagen.
    Die Ähnlichkeit mit ihrem Ziehvater hörte damit aber auch schon auf. Peralta war in einen zweifellos maßgeschneiderten Anzug gehüllt, der ein kleines Vermögen gekostet haben musste, und an seinen Fingern glänzten so viele schwere goldene Ringe, dass sie sich ernsthaft fragte, ob er die Hände überhaupt aus eigener Kraft heben konnte. Hinter seinen mit Herpes-Bläschen bedeckten Lippen schimmerte beinahe noch mehr Gold, und er hatte die gnadenlosesten Augen, die Pia jemals bei einem Menschen gesehen hatte; abgesehen von Schwert Torman vielleicht. Aber bei dem war sie noch immer nicht ganz sicher, ob er
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