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Elfenkind

Elfenkind

Titel: Elfenkind
Autoren: Inka-Gabriela Schmidt
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legte, auch wenn es nicht der Wirklichkeit entsprach. Maman , die Familiendiplomatin. Aliénor würde niemals verstehen, wozu das gut sein sollte.
    Sie war gerade im Bad fertig, als ihre Mutter zum Essen rief. Es war noch keine Minute vergangen, als die Aufforderung ein wenig lauter und mit unüberhörbarer Ungeduld von ihrem Vater wiederholt wurde.
    «Ja doch, gleich!», rief Aliénor genervt.
    Zut alors! Sobald sie ihr Studium beendet und einen Job gefunden hatte, würde sie nichts und niemand mehr davon abhalten auszuziehen. Niemand!
    Aliénor betrachtete sich mit grimmiger Miene in der Spiegeltür ihres Schrankes. Sie hatte das Alles schon tausendfach im Kopf durchgespielt. Wenn sie arbeiten ginge, könnte sie sich durchaus ein Zimmer in einer WG leisten.
    Sie seufzte. Nein. Sie konnte maman nicht allein lassen. Noch nicht. Irgendwie musste es ihr gelingen, dass ihre Mutter ebenfalls ihr Leben in die Hand nahm und sich von Geoffrey trennte. Auch wenn er ihr Vater war, glaubte Aliénor nicht mehr daran, dass ihre Mutter an seiner Seite je glücklich sein würde. Sie selbst war es ja auch nicht. Auch wenn es ihr, selbst vor sich selbst, schwer fiel, das einzugestehen. Denn immerhin war er ja ihr Vater. Durfte man den eigenen Vater nicht mögen?
    Die schier unerreichbar wirkende Unabhängigkeit erschien Aliénor wie ein Fremdwort voll zauberhafter Magie. Nur noch machen, wozu sie Lust hatte. Niemandem mehr Rechenschaft ablegen. Niemandem verpflichtet. Dieser Tag wird kommen.
    Sie gab sich einen Ruck und ging hinunter.
    «Hättest du dir nicht etwas Anständiges anziehen können?», knurrte Geoffrey ungehalten. Sein Teller war wie immer gut beladen und dampfte heiß. Seine Finger trommelten einen unregelmäßigen Takt auf der Tischplatte, der abrupt endete, sobald Aliénor sich gesetzt hatte.
    «Ich weiß nicht, was du meinst.»
    Aliénor legte sich sorgfältig die Serviette über den Schoß, eine Angewohnheit, die sie mit ihrer Mutter teilte, die viel Wert auf gute Manieren bei Tisch legte. Während andere in ihrem Alter das eher spießig fanden, gehörte es für Aliénor durchaus zu ihrer Selbstdarstellung.
    «Ein Morgenmantel gehört zum Morgen», insistierte Geoffrey hartnäckig.
    «Zu mehr hast du mir ja keine Zeit gelassen.»
    «Ich dulde nicht …»
    «Lass mich …»
    « Arrêtez! Können wir nicht einmal in Ruhe essen, ohne dass ihr euch streitet?» Aliénor und Geoffrey blickten beide erstaunt zu Chantal, die sonst niemals die Stimme erhob. Selbst ganz erschrocken, senkte diese sofort den Kopf und reichte ihrer Tochter den Teller mit Gemüse und Kartoffeln. «Bon appétit», flüsterte sie ihr zu. Für einen Augenblick senkte sich Stille über den Tisch, aber das konnte natürlich nicht andauern.
    «Hmmm», brummte Geoffrey zufrieden, während er auf einem Stück Hühnerfleisch kaute. «Du solltest unbedingt die Hühnchenschenkel probieren, Aliénor. Die sind köstlich.»
    « Merde , Papa! Du weißt doch genau, dass ich kein Fleisch esse. Willst du heute Abend alles mit mir durchdiskutieren, was wir schon hundertmal hatten?»
    Unwillig attackierte Aliénor mit ihrer Gabel die Erbsen, die daraufhin quer über den Tisch schossen. Chantal schickte einen flehenden Blick zu ihr hinüber, der in Aliénor sofort das bekannte Gefühl von Schuld aufsteigen ließ. Warum konnte sie nicht einfach mal den Mund halten? Aber ihr Vater schaffte es immer wieder, sie so zu reizen, dass sie ihre guten Vorsätze vergaß.
    Sie rief sich ein weiteres Mal streng zur Ordnung, versuchte sich endlich zusammenzureißen, und gab sich Mühe, gesittet zu essen, um ihren Vater nicht noch mehr zu reizen. Aber am liebsten hätte sie ihm gesagt, er könne sie mal …
    Sie hasste diese endlosen Wiederholungen. Seit ihr Bruder Maurice in Oxford studierte, konzentrierte sich Geoffrey nur noch auf sie. Eigentlich sollte ihr Vater unterdessen wirklich verstanden haben, dass sie keine tierische Nahrung zu sich nahm, weil ihr davon schlecht wurde. Sie fragte sich, ob es Absicht war oder ob er es tatsächlich nicht wusste. Vielleicht hörte er sich ja immer nur selbst – er schrie ja laut genug –, oder es war ihm einfach egal. Sie unterdrückte ein Seufzen.
    Eine Weile sprach niemand. Ab und zu hörte man ein leises Knacken, wenn Geoffrey genüsslich auf einen Knorpel biss. Aliénor mied seinen Blick. Bestimmt machte er das extra, um sie zu ärgern. Verstohlen schaute sie auf die Uhr an der Wand hinter ihm.
    «Hast du heute noch etwas vor?»,
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