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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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Jahren vor allem Alkoholiker. An einem ähnlichen Nachmittag hatte er zweimal versucht zu onanieren, während er das Auge ans Fernrohr preßte und unverwandt einen Jungen anstarrte, der seinen String abgestreift und dessen Schwanz einen ergreifenden Anstieg in der Luft begonnen hatte. Sein eigenes Glied war schlaff und faltig herabgesunken, wie ausgetrocknet; er unternahm keinen weiteren Versuch.
        Djerzinski war pünktlich um vier da. Desplechin hatte ihn um ein Gespräch gebeten. Der Fall weckte seine Neugier. Es war zwar durchaus üblich, daß ein Forscher ein Sabbatjahr beantragte, um in einem anderen Team in Norwegen, Japan oder irgendeinem dieser traurigen Länder zu arbeiten, in denen die Menschen um die Vierzig massenhaft Selbstmord begehen. An- dere - das war vor allem während der Mitterand-Ära der Fall gewesen, der Epoche, in der die Geldgier unerhörte Ausmaße annahm - machten sich auf die Suche nach Finanzierungskapital und gründeten eine Firma, um das eine oder andere Molekül zu vermarkten; manche hatten übrigens in kurzer Zeit beträchtliche Reichtümer angehäuft und aus dem Wissen, das sie während der Jahre in der freien Forschung erworben hatten, hemmungslos Profit geschlagen. Aber Djerzinskis Beurlaubung ohne Vorhaben, ohne Ziel, ohne eine Spur von Rechtfertigung schien völlig unverständlich. Er war mit vierzig Jahren Institutsdirektor, hatte fünfzehn Wissenschaftler unter sich; er selbst unterstand - und das rein theoretisch - nur Desplechin. Sein Team erzielte ausgezeichnete Resultate, es stand im Ruf, eines der besten europäischen Teams zu sein. Also kurz, was war nicht in Ordnung? Desplechin fragte mit übertrieben dynamischer Stimme: »Haben Sie irgendwelche Pläne?« Dreißig Sekunden war es still, dann äußerte Djerzinski nüchtern: »Nachdenken.« Das fing schlecht an. Mit gezwungener Fröhlichkeit fragte Desplechin weiter: »Private Gründe?« Während er das ernste Gesicht mit den scharfen Zügen und den traurigen Augen betrachtete, das ihm zugewandt war, überkam ihn plötzlich tiefe Scham. Private Gründe, wieso? Er selbst hatte Djerzinski vor fünfzehn Jahren von der Universität Orsay an sein Institut geholt. Seine Wahl war, wie sich herausgestellt hatte, ausgezeichnet gewesen: Djerzinski war ein sehr genauer, gewissenhafter, einfallsreicher Forscher; er hatte eine beträchtliche Anzahl von Resultaten vorzuweisen. Wenn es dem CNRS gelungen war, in der Molekularbiologie innerhalb der europäischen Forschung seinen Rang zu behaupten, war es weitgehend ihm zu verdanken. Er hatte sämtliche Hoffnungen erfüllt, über alle Maßen. »Natürlich haben Sie weiterhin Zugang zu unserer EDV«, sagte Desplechin zum Schluß. »Ihr Paßwort für die auf dem Server gespeicherten Resultate und für den Internet-Zugang des Instituts bleibt weiterhin bestehen; und das auf unbestimmte

    Dauer. Wenn Sie sonst noch etwas benötigen, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.«

    Nachdem Djerzinski gegangen war, wandte sich Desplechin wieder zur Fensterwand. Er schwitzte leicht. Auf der Uferpromenade gegenüber zog ein junger dunkelhaariger Mann nordafrikanischen Typs seine Shorts aus. Es gab noch ein Reihe echter Probleme in der biologischen Grundlagenforschung. Die Biologen taten so, als seien die Moleküle getrennte materielle Elemente, die nur durch elektromagnetische Anziehung und Abstoßung miteinander verbunden waren; keiner von ihnen, davon war er überzeugt, hatte von dem EPR-Paradoxon und den Versuchen von Aspect gehört; keiner hatte sich je die Mühe gemacht, sich über die Fortschritte zu informieren, die seit Anfang des Jahrhunderts in der Physik gemacht worden waren; ihre Vorstellung vom Atom unterschied sich kaum von jener, die bereits Demokrit vertrat. Sie trugen aufwendige, sich wiederholende Daten zusammen, nur um sofort irgendwelche industriellen Anwendungen dafür zu finden, ohne sich je klar zu werden, daß die theoretische Basis ihres Ansatzes unterminiert war. Djerzinski und er selbst waren aufgrund ihrer ursprünglichen Studien als Physiker wahrscheinlich die einzigen im CNRS, die sich dessen bewußt waren: Sobald man wirklich die atomaren Grundlagen des Lebens untersuchen würde, würden die Fundamente der gegenwärtigen Biologie gesprengt werden. Desplechin sann über diese Fragen nach, während sich die Dunkelheit allmählich über die Seine legte. Er konnte sich absolut nicht vorstellen, welche Wege Djerzinski mit seinem Nachdenken beschreiten mochte; er
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