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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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worden war; und er begann zu weinen. Das Kind saß an seinem Pult und hielt ein geöffnetes Schulbuch in der Hand. Es lächelte und blickte den Betrachter voller Freude und Zuversicht an; und dieses Kind, das war das Unverständliche, war er. Das Kind machte seine Hausaufgaben, lernte seine Lektionen fleißig und ernst. Es betrat die Welt, entdeckte die Welt, und die Welt flößte ihm keine Angst ein; es war bereit, seinen Platz in der Gesellschaft der Menschen einzunehmen. All das konnte man im Blick des Kindes lesen. Es trug einen Kittel mit einem schmalen Kragen.
        Mehrere Tage lang behielt Michel das Foto in Reichweite, neben der Nachttischlampe. Die Zeit ist ein banales Rätsel, und alles war in Ordnung, versuchte er sich zu sagen; der Blick erlöscht, Freude und Zuversicht verschwinden. Er lag auf seiner Bultex-Matratze und übte sich ohne Erfolg in der Impermanenz. Die Stirn des Kindes war von einer kleinen runden Vertiefung gezeichnet - eine Windpockennarbe; diese Narbe hatte die Jahre überdauert. Wo lag die Wahrheit? Die mittägliche Hitze erfüllte den Raum.
    4

        Martin Ceccaldi, der 1882 in einem korsischen Dorf als Sohn einer bäuerlichen Familie von Analphabeten zur Welt kam, schien für ein Leben als Bauer und Hirte bestimmt zu sein, ein Leben mit beschränktem Aktionsradius, wie es seine Vorfahren seit einer unbestimmten Zahl von Generationen geführt hatten. Es handelt sich um eine Lebensweise, die in unseren Breiten seit langem nicht mehr anzutreffen ist und deren umfassende Analyse daher nur von begrenztem Interesse ist; da jedoch manche radikalen Umweltschützer zeitweilig eine unverständliche Nostalgie für diese Lebensweise an den Tag legen, gebe ich hier der Vollständigkeit halber eine kurze synthetische Beschreibung eines solchen Daseins: Man hat die Natur und die frische Luft, man bestellt ein paar Äcker (deren Anzahl durch ein strenges Erbfolgesystem genau geregelt ist), ab und zu schießt man ein Wildschwein; man vögelt quer durch die Gemeinde und besonders seine Frau, die Kinder zur Welt bringt; man zieht besagte Kinder auf, damit sie ihren Platz in demselben Ökosystem einnehmen, man holt sich eine Krankheit, und dann ist Sense.
        Das einzigartige Schicksal, das Martin Ceccaldi zuteil wurde, ist in Wirklichkeit völlig symptomatisch für die Rolle, die die staatliche, bekenntnisfreie Schule während der gesamten Dritten Republik als integratives Element für die französische Gesellschaft sowie für die Förderung des technologischen Fortschritts spielte. Sein Grundschullehrer erkannte sehr schnell, daß er einen außergewöhnlich begabten Schüler vor sich hatte, dessen Abstraktionsfähigkeit und formale Erfindungsgabe in dem begrenzten Milieu, dem er entstammte, kaum adäquate Anwendung finden würden. Da er sich durchaus bewußt war, daß sich seine Rolle nicht darauf beschränkte, jedem künftigen Staatsbürger ein elementares geistiges Rüstzeug zu vermitteln, sondern daß er auch die Aufgabe hatte, die Eliteelemente zu entdecken, die berufen waren, sich in die Reihe der Führungskräfte der Republik einzugliedern, gelang es ihm, Martins Eltern davon zu überzeugen, daß das Schicksal ihres Sohnes zwangsläufig außerhalb Korsikas seine Erfüllung finden würde. 1894 kam der Junge daher, versehen mit einer Ausbildungsbeihilfe, als Internatsschüler in das Lycée Thiers in Marseille (das in Marcel Pagnols Kindheitserinnerungen schön beschrieben wird, einem Buch, das aufgrund der ausgezeichneten realistischen Rekonstruierung der Ideale, die eine Epoche begründen - exemplarisch verdeutlicht am Lebensweg eines begabten jungen Mannes aus sehr einfachen Verhältnissen - bis zum Schluß Martin Ceccaldis Lieblingslektüre sein sollte). 1902 bestand er die Aufnahmeprüfung für die Ecole Polytechnique und erfüllte somit gänzlich die Hoffnungen, die sein ehemaliger Grundschullehrer in ihn gesetzt hatte.
        Im Jahr 1911 übernahm er einen Posten, der für seinen weiteren Lebensweg ausschlaggebend sein sollte. Er hatte den Auftrag, das gesamte algerische Territorium mit einem leistungsfähigen Wasserversorgungssystem zu versehen. Über fünfundzwanzig Jahre widmete er sich dieser Aufgabe, berechnete die Krümmung der Aquädukte und den Durchmesser der Rohrleitungen. 1923 heiratete er Geneviève July, Inhaberin eines Tabakwarengeschäfts, deren Familie, die ursprünglich aus dem Languedoc stammte, seit zwei Generationen in Algerien lebte.
    1928 wurde ihnen ein
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