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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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Mädchen geboren: Janine.
        Der Lebensbericht eines Menschens kann so lang oder kurz sein, wie man will. Die metaphysische oder tragische Variante, die sich letztlich auf die Angabe von Geburts- und Todesdaten beschränkt und traditionellerweise auf einem Grabstein zu finden ist, zeichnet sich natürlich durch ihre äußerste Kürze aus. Was Martin Ceccaldi angeht, scheint es angebracht, eine historische und soziale Dimension anzuführen, um den Akzent weniger auf die individuellen Merkmale der betreffenden Person als vielmehr auf die Entwicklung der Gesellschaft zu legen, für die das Individuum ein symptomatisches Element darstellt. Die symptomatischen Individuen führen, da sie zum einen von der historischen Entwicklung ihrer Epoche getragen werden und sich darüber hinaus bewußt für sie entschieden haben, im allgemeinen ein einfaches, glückliches Dasein; der Bericht kann in solchen Fällen daher auf ein oder zwei Seiten beschränkt werden. Janine Ceccaldi gehörte jedoch in die schwer zu erfassende Kategorie der Vorläufer. Da die Vorläufer zum einen sehr stark der von der Mehrheit ihrer Zeitgenossen geführten Lebensweise angepaßt sind, zum anderen aber darum bemüht sind, diese Lebensweise »von oben her« zu überwinden, indem sie sich für neue Verhaltensweisen einsetzen oder zur Verbreitung von noch wenig bekannten Verhaltensweisen beitragen, erfordert ihre Beschreibung im allgemeinen etwas mehr Raum, insbesondere auch deshalb, weil ihr Lebensweg oft viel gewundener und verworrener ist. Sie spielen jedoch ausschließlich eine Rolle als Beschleuniger historischer Prozesse - im allgemeinen historischer Zersetzungsprozesse -, ohne jemals den Ereignissen eine neue Richtung geben zu können, denn diese Rolle ist den Revo lutionären oder den Propheten vorbehalten.
        Schon sehr früh ließ die Tochter von Martin und Geneviève Ceccaldi außergewöhnliche geistige Fähigkeiten erkennen, die mindestens ebenso ausgeprägt waren wie die ihres Vaters, zu denen sich noch die Anzeichen eines äußerst unabhängigen Charakters gesellten. Sie verlor ihre Unschuld im Alter von dreizehn (was zu ihrer Zeit und in ihrem Milieu sehr ungewöhnlich war), ehe sie ihre Kriegsjahre (die in Algerien eher ruhig verliefen) damit verbrachte, die wichtigsten Bälle zu besuchen, die an jedem Wochenende stattfanden - zunächst in Constantine und dann in Algier; und all das, nicht ohne in jedem Schuljahr, im Frühjahr wie im Herbst, eindrucksvolle Zeugnisse vorzuweisen. Mit einem glänzenden Abiturzeugnis in der Tasche und mit soliden sexuellen Erfahrungen gerüstet, verließ sie 1945 ihre Eltern, um in Paris Medizin zu studieren.
        Die Jahre unmittelbar nach dem Krieg waren mühselig und stürmisch; der industrielle Produktionswert war auf dem Tiefpunkt, und die Lebensmittelrationierung wurde erst 1948 aufgehoben. Jedoch innerhalb einer kleinen betuchten Randgruppe der Gesellschaft tauchten schon die ersten Anzeichen eines unterhaltsamen Libidinal-Massenkonsums auf, der aus den USA kam und sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen sollte. Während ihres Studiums an der medizinischen Fakultät in Paris konnte Janine Ceccaldi die »existentialistischen« Jahre aus nächster Nähe miterleben und hatte sogar die Gelegenheit, mit Jean-Paul Sartre im Tabou einen Bebop zu tanzen. Das Werk des Philosophen beeindruckte sie wenig, die Häßlichkeit des Mannes dagegen, die an Körperbehinderung grenzte, erstaunte sie zutiefst, so daß der Zwischenfall ohne Folgen blieb. Sie selbst, von ausgesprochen südländischem Typ, war sehr hübsch und hatte zahlreiche Liebesabenteuer, ehe sie 1952 Serge Clément begegnete, der damals gerade seinen Facharzt als Chirurg machte.
        »Möchten Sie wissen, wie mein Vater aussah?« sagte Bruno viele Jahre später gern. »Nehmen Sie einen Affen, rüsten Sie ihn mit einem Mobiltelefon aus, dann haben Sie eine Vorstellung von dem Mann.« Damals verfügte Serge Clément natürlich noch nicht über ein Mobiltelefon; aber er war tatsächlich stark behaart. Kurz gesagt, er sah überhaupt nicht gut aus; aber es ging etwas ausgesprochen Männliches und Unkompliziertes von ihm aus, das die junge Assistenzärztin wohl betörte. Außerdem hatte er hochfliegende Pläne. Eine Reise in die USA hatte ihn davon überzeugt, daß die Schönheitschirurgie einem ehrgeizigen Arzt beträchtliche Zukunftsmöglichkeiten bot. Die allmähliche Ausweitung des Markts der
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