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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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begeistert von den Errungenschaften des tibetanischen Buddhismus, den China gewaltsam auszumerzen versuchte; dann traf keine Nachricht mehr von ihm ein. Ein Protestschreiben Frankreichs an die chinesische Regierung blieb wirkungslos, und obwohl seine Leiche nicht gefunden wurde, erklärte man ihn ein Jahr später offiziell für tot.

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        Im Sommer 1968 ist Michel zehn. Seit seinem zweiten Lebensjahr lebt er allein mit seiner Großmutter. Sie leben in Charny, im Departement Yonne, nahe der Grenze zum Departement Loiret. Er steht morgens früh auf, um das Frühstück für seine Großmutter zuzubereiten; er hat sich auf einem speziellen Zettel notiert, wie lange der Tee ziehen muß, wie viele Scheiben Brot nötig sind und andere Dinge.
        Häufig bleibt er bis zum Mittagessen in seinem Zimmer. Er liest Jules Verne, P if der Hund oder Fünf Freunde; aber am häufigsten vertieft er sich in seine Buchreihe Das ganze Universum . Darin geht es um die Festigkeitslehre, die Form der Wolken und den Tanz der Bienen. Und es ist die Rede vom Taj Mahal, dem Palast, den ein König vor sehr langer Zeit zu Ehren seiner verstorbenen Königin errichten ließ, von Sokrates' Tod oder der Erfindung der Geometrie vor dreitausend Jahren durch Euklid.
        Nachmittags sitzt er im Garten. In kurzen Hosen, mit dem Rücken an den Kirschbaum gelehnt, spürt er die weiche Masse des Grases. Er spürt die Hitze der Sonne. Die Salatpflanzen nehmen die Hitze der Sonne in sich auf, sie nehmen auch Wasser in sich auf, und er weiß, daß er sie bei Einbruch der Dunkelheit gießen muß. Er liest weiter Das ganze Universum oder ein Buch aus der Reihe Hundert Fragen zu ; er nimmt Wissen in sich auf
        Häufig fährt er auch mit dem Fahrrad durch die Gegend. Er tritt mit aller Kraft in die Pedale und füllt seine Lungen mit der Würze der Ewigkeit. Die Ewigkeit der Kindheit ist nur kurz, aber das weiß er noch nicht; die Landschaft gleitet vorüber.
        In Charny gibt es nur noch ein Lebensmittelgeschäft, aber mittwochs kommt der Lieferwagen des Schlachters und freitags der des Fischhändlers; samstags kocht seine Großmutter oft Stockfisch in Sahnesoße zu Mittag. Michel verbringt jetzt seinen letzten Sommer in Charny, aber das weiß er noch nicht. Zu Beginn des Jahres hat seine Großmutter einen Schwächeanfall erlitten. Ihre beiden Töchter, die in einem Pariser Vorort leben, bemühen sich, in ihrer Nähe ein Haus für sie zu finden. Sie ist nicht mehr in der Lage, das ganze Jahr allein zu leben und sich um ihren Garten zu kümmern.
        Michel spielt selten mit den Jungen in seinem Alter, versteht sich aber durchaus nicht schlecht mit ihnen. Er wird ein bißchen als Außenseiter betrachtet; er kommt sehr gut in der Schule zurecht, begreift alles ohne sichtliche Anstrengung. Seit jeher ist er der Beste in allen Fächern; selbstverständlich ist seine Großmutter stolz auf ihn. Doch er wird von seinen Klassenkameraden weder gehaßt noch schikaniert; er läßt sie bei den Klassenarbeiten wie selbstverständlich von sich abschreiben. Er wartet, bis sein Nachbar fertig ist, dann beginnt er eine neue Seite. Trotz seiner hervorragenden Leistungen sitzt er in der letzten Reihe. Die Verhältnisse im Reich der Kindheit sind unberechenbar.

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        An einem Sommernachmittag, als er noch im Departement Yonne lebte, ist Michel mit seiner Cousine Brigitte über die Wiesen gerannt. Brigitte war ein hübsches sechzehnjähriges, außerordentlich liebenswürdiges Mädchen, das einige Jahre später einen absoluten Vollidioten heiraten sollte. Es war im Sommer 1967. Sie nahm seine Hände und wirbelte ihn im Kreis um sich herum; dann ließen sie sich ins frisch gemähte Gras fallen. Er schmiegte sich an ihren warmen Busen; sie trug einen kurzen Rock. Am nächsten Tag waren sie mit kleinen roten Pickeln übersät, ein fürchterlicher Juckreiz überfiel sie am ganzen Körper. Der Thrombidium holosericum, auch Larve der Erntemilbe genannt, ist in den Wiesen im Sommer weit verbreitet. Sein Durchmesser beträgt etwa 2 Millimeter. Er besitzt einen kräftigen, fleischigen, stark gewölbten Leib von leuchtend roter Farbe. Er bohrt sein Rostrum in die Haut der Säugetiere und verursacht unerträgliche Reizungen. Die Linguatulia rhinaria, der Zungenwurm, lebt in den Nasen-, Stirn- oder Kieferhöhlen des Hundes und manchmal auch des Menschen. Der Embryo ist oval und besitzt einen Schwanzfortsatz; sein Mund verfügt über einen
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