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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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Verführungsindustrie, die damit ver- bundene Auflösung der traditionellen Ehe, der zu erwartende wirtschaftliche Aufschwung Westeuropas: all das deutete übereinstimmend darauf hin, daß auf diesem Sektor ausgezeichnete Wachstumschancen zu erwarten waren, und es war Serge Cléments Verdienst, diese Situation als einer der ersten in Europa - und zweifellos als erster in Frankreich - erkannt zu haben; sein Problem bestand nur darin, daß ihm das nötige Startkapital für dieses Vorhaben fehlte. Martin Ceccaldi, der von der Unternehmungslust seines zukünftigen Schwiegersohns positiv beeindruckt war, erklärte sich dazu bereit, ihm Geld zu leihen, und 1953 konnte die erste Klinik in Neuilly eröffnet werden. Der Erfolg, der durch die Berichterstattung in den Frauenzeitschriften unterstützt wurde, die zu jener Zeit einen Boom erlebten, war tatsächlich überwältigend, und 1955 konnte eine weitere Klinik auf den Anhöhen von Cannes eröffnet werden.
        Das Paar führte damals das, was man später eine »moderne Ehe« nennen sollte, und es war eher Janines Unaufmerksamkeit zuzuschreiben, daß sie ein Kind von ihrem Mann erwartete. Dennoch beschloß sie, das Kind zu behalten; die Mutterschaft, so meinte sie, gehörte zu den Erfahrungen, die eine Frau machen mußte; die Schwangerschaft stellte sich im übrigen als eine eher angenehme Zeit heraus, und Bruno wurde im März 1956 geboren. Die mühselige Pflege, die das Aufziehen eines kleinen Kindes erfordert, erschien dem Paar sehr bald unvereinbar mit ihrem Ideal der persönlichen Freiheit, und so wurde Bruno 1958 in gegenseitigem Einvernehmen zu seinen Großeltern mütterlicherseits nach Algier geschickt. Zu jenem Zeitpunkt war Janine erneut schwanger; doch diesmal war Marc Djerzinski der Vater.

    Von entsetzlichem, an Hungersnot grenzenden Elend getrieben, verließ Lucien Djerzinski 1919 das Bergbaurevier von Kattowitz, wo er zwanzig Jahre zuvor geboren war, weil er hoffte, in Frankreich Arbeit zu finden. Er begann als Arbeiter bei der Eisenbahn, zunächst beim Bau und später bei der Instand- haltung der Gleise, und heiratete Marie Le Roux - die Tochter eines aus Burgund stammenden Tagelöhnerehepaars -, die selbst bei der Eisenbahn angestellt war. Er zeugte mit ihr vier Kinder, ehe er 1944 bei einem Bombenangriff der Alliierten umkam.
        Marc, das dritte Kind, war beim Tod seines Vaters vierzehn. Er war ein kluger, fleißiger, ein wenig trauriger Junge. Dank eines Nachbarn erhielt er 1946 eine Lehrstelle als Beleuchter in den Filmstudios der Pathé in Joinville. Er erwies sich sogleich als sehr begabt für diese Arbeit: Ausgehend von ein paar kurzen Anweisungen bereitete er vor der Ankunft des Kameramanns ausgezeichnete Lichteinstellungen vor. Henri Alekan schätzte ihn sehr und wollte ihn zu seinem Assistenten machen, als er 1951 beschloß, zum O. R. T. F. zu gehen, das gerade seine ersten Sendungen ausstrahlte.
        Als er Anfang 1957 J anine kennenlernte, machte er eine Fernsehreportage über die gesellschaftlichen Kreise in Saint Tropez. Im Mittelpunkt seines Berichts stand Brigitte Bardot (Und immer lockt das Weib war 1956 heraus gekommen und löste den Bardot-Mythos aus), doch seine Reportage nahm auch verschiedene Künstler- und Literatenkreise unter die Lupe, insbesondere jene Gruppe, die später die »Sagan-Clique« genannt wurde. Dieses Milieu, zu dem Janine trotz ihres Geldes keinen Zugang hatte, faszinierte sie, und sie scheint sich wirklich in Marc verliebt zu haben. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, er habe das Zeug zu einem großen Filmemacher, was vermutlich sogar zutraf. Er arbeitete unter Reportagebedingungen mit leichtem Beleuchtungsgerät, und einfach dadurch, daß er ein paar Gegenstände umstellte, gelangen ihm verstörende Szenen, die zugleich realistisch, unbewegt und von tiefer Hoffnungslosigkeit waren und in gewisser Weise an Edward Hoppers Bilder erinnerten. Er ließ über die Berühmtheiten, mit denen er zusammenkam, einen teilnahmslosen Blick schweifen und filmte Bardot oder Sagan mit der gleichen Wertschätzung, als habe er Tintenfische oder Flußkrebse vor sich. Er sprach mit niemandem, schloß sich niemandem an; er war wirklich faszinierend.
        Janine ließ sich 1958 von ihrem Mann scheiden, kurz nachdem sie Bruno zu ihren Eltern geschickt hatte. Es war eine Scheidung in gegenseitigem Einverständnis und aus beiderseitigem Verschulden. Großzügig überließ ihr Serge seine Anteile an der Klinik in Cannes, die ihr
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