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Elementarteilchen

Elementarteilchen

Titel: Elementarteilchen
Autoren: Michel Houellebecq
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Palaiseau von einer privilegierten Umgebung profitieren?« hatten 63 Prozent der Bewohner mit »Ja« geantwortet. Das ließ sich verstehen; die Gebäude waren niedrig und durch Rasenflächen getrennt. Mehrere Einkaufszentren ermöglichten eine mühelose Versorgung; der Begriff Lebensqualität wirkte in bezug auf Palaiseau kaum übertrieben.
        Die Autobahn in Richtung Paris war wie ausgestorben. Er hatte den Eindruck, sich in einem neuseeländischen Science-fiction-Film zu befinden, den er während seines Studiums gesehen hatte: Der letzte Mensch auf Erden, nachdem alles Leben ver- schwunden ist. Es lag irgend etwas in der Luft, das die Vorstellung einer apokalyptischen Dürre aufkommen ließ.
        Djerzinski wohnte seit gut zehn Jahren in der Rue Frérnicourt; er hatte sich daran gewöhnt, das Viertel war ruhig.
    1993 hatte er das Bedürfnis nach Gesellschaft empfunden; irgend etwas, das ihn abends beim Heimkommen empfing. Seine Wahl war auf einen weißen Kanarienvogel gefallen, ein ängstliches Tier. Er sang vor allem morgens; und dennoch wirkte er nicht fröhlich; doch kann ein Kanarienvogel fröhlich sein? Freude ist eine tiefe, intensive Empfindung, ein erhebendes Gefühl der Fülle, das das ganze Bewußtsein durchdringt; man kann die Freude mit dem Rausch, der Verzückung oder der Ekstase vergleichen. Einmal hatte er den Vogel aus seinem Käfig geholt. Zutiefst verängstigt hatte das Tier aufs Sofa geschissen, ehe es sich auf der Suche nach dem Eingang auf das Gitter stürzte. Einen Monat später hatte er den Versuch wiederholt. Diesmal fiel das arme Tier aus dem Fenster; der Vogel hatte den Fall gebremst, so gut es ging, und war mit Müh und Not fünf Stockwerke tiefer auf einem Balkon des gegenüberliegenden Hauses gelandet. Michel mußte warten, bis die Bewohnerin zurückkehrte, und hoffte sehnlichst, daß sie keine Katze hatte. Es stellte sich heraus, daß die junge Frau Redakteurin bei der Zeitschrift 20 Ans war; sie lebte allein und kam spät heim. Sie hatte keine Katze.
        Es war bereits dunkel gewesen; Michel hatte das kleine Tier zurückgeholt, das sich zitternd vor Kälte und Angst an die Betonwand gedrückt hatte. Anschließend begegnete er der Redakteurin noch mehrmals, meistens, wenn er seinen Müll nach draußen brachte. Sie nickte ihm zu, vermutlich als Zeichen, daß sie ihn wiedererkannt hatte; auch er nickte ihr zu. Kurz gesagt, der Zwischenfall hatte ihm erlaubt, eine nachbarliche Beziehung anzuknüpfen; so gesehen war die Sache gut.
        Von seinen Fenstern konnte man ein knappes Dutzend Wohnblocks erkennen, also etwa dreihundert Wohnungen. Wenn er abends heimkam, begann der Kanarienvogel im allge- meinen zu pfeifen und zu zwitschern, das dauerte fünf bis zehn Minuten; dann füllte Michel Körner und Wasser nach, erneuerte den Streusand. An jenem Abend jedoch wurde er von Stille empfangen. Er ging auf den Käfig zu: Der Vogel war tot. Sein kleiner weißer Körper war schon kalt und lag auf der Seite in den Sandkörnern.
        Zum Abendessen nahm er eine Portion Seewolf mit Kerbel der Marke Monoprix Gourmet zu si ch und trank dazu einen mittelmäßigen Valdepeñas. Nach kurzem Zögern legte er den Vogelkadaver in eine Plastiktüte, die er mit einer Bierflasche beschwerte, und warf das Ganze in den Müllschlucker. Was sollte er sonst tun? Eine Messe lesen?
        Er hatte nie erfahren, wohin der Müllschlucker mit dieser winzigen Öffnung (die aber groß genug war, um den Körper eines Kanarienvogels aufzunehmen) führte. Doch er träumte von gigantischen Mülltonnen, die mit Kaffeefiltern, Ravioli in Soße und abgeschnittenen Geschlechtsorganen gefüllt waren. Riesige Würmer, ebenso groß wie der Vogel und mit Schnäbeln bewaffnet, machten sich über den Kadaver her. Sie rissen ihm die Beine aus, zerfetzten seine Eingeweide und zerstachen seine Augäpfel. Michel richtete sich nachts zitternd auf, es war noch nicht halb zwei. Er schluckte drei Xanax. So endete sein erster Abend der Freiheit.

    2

        Am 14. Dezember 1900 benutzte Max Planck zum erstenmal in einem Vortrag mit dem Titel » Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspektrum« in der Berliner Akademie den Begriff Energiequantelung, der in der Weiterentwicklung der Physik eine entscheidende Rolle spielen sollte. Hauptsächlich auf Betreiben von Einstein und Bohr wurden zwischen
    1900 und 1920 mehr oder weniger gelungene Modelle entwickelt, die versuchten, das neue Konzept dem Rahmen der
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