Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eiszeit

Eiszeit

Titel: Eiszeit
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
dreißig Meter hoch ist, noch immer wächst, im winterlichen Himmel verschwindet, gewaltig, wie das Antlitz Gottes. Der Koloß trifft auf den Audi, reißt den Wagen um, schiebt ihn über die Straße, gleitet unter und über ihm hinweg, wirft ihn über die Leitplanke und in eine Schlucht. Umhüllendes Weiß überall. Der Wagen überschlägt sich, und noch einmal, und rutscht dann zur Seite, hinab, hinab, prallt von einem Baum ab, dreht sich in die Lawine und rast erneut in einem noch größeren Fluß aus Schnee hinab, schlägt noch einmal irgendwo auf, und noch einmal. Die Windschutzscheibe implodiert, und dann folgen eine plötzlich Stille und ein Schweigen, das tiefer ist als das in einer verlassenen Kirche.
    Rita riß sich von der Erinnerung los, gab bedeutungslose, elende Geräusche des Entsetzens von sich.
    George Lin stieß sie von hinten an.
    Sie hatte aufgehört zu schwimmen.
    Sie verfluchte sich und trat mit den Beinen, um sich wieder in Bewegung zu setzen.

23:43
     
    Auf etwa dreihundertundfünfzig Fuß, als sie gut die halbe Strecke zur Ilja Pogodin zurückgelegt hatten, bezweifelte Harry allmählich, daß sie es ganz hinab schaffen würden. Er wurde sich des unglaublichen Drucks bewußt, hauptsächlich, weil seine Trommelfelle immer wieder knackten. Das Tosen seines eigenen Blutes, das durch seine Venen und Arterien strömte, klang wie Donnergrollen. Er bildete sich ein, ferne Stimmen zu hören, Feenstimmen, doch die Worte ergaben keinen Sinn, und er vermutete, daß er wirklich in Schwierigkeiten stecken würde, wenn er erst verstand, was sie sagten. Er fragte sich, ob er, wie ein U-Boot, unter extremen Druck zusammenbrechen konnte und zu einer flachen Masse aus Blut und Knochen zusammengequetscht werden würde.
    Zuvor, über den Kurzwellensender, hatte Leutnant Timoschenko ihm zahlreiche Beweise geboten, daß man den Abstieg erfolgreich bewältigen konnte, und Harry leierte einige davon in Gedanken immer wieder herunter: 1961 waren im Lago Maggiore schweizerische und amerikanische Taucher in normaler Tauchausrüstung bis auf siebenhundertunddreißig Fuß heruntergekommen. Lago Maggiore. Schweizerische und amerikanische Taucher. 1990 waren russische Taucher in moderner Ausrüstung bis auf... er hatte es vergessen. Aber tiefer als im Lago Maggiore. Schweizer, Amerikaner, Russen... Man konnte es schaffen. Zumindest gut ausgerüstete professionelle Taucher. Vierhundert Fuß.

23:44
     
    Als George Lin dem Kabel tiefer in den Tunnel folgte, sagte er sich, daß die Russen keine Kommunisten mehr waren. Zumindest hatten die Kommunisten nicht das Sagen. Nicht mehr. Noch nicht. Eines Tages würden sie vielleicht wieder die Macht ergreifen; das Böse starb nie endgültig. Aber die Männer in dem U-Boot setzten ihr Leben aufs Spiel, und sie hatten keine düsteren Motive. Er versuchte sich zu überzeugen, aber es fiel ihm schwer, denn er hatte zu viele Jahre in Furcht vor der roten Flut gelebt.
     
    Kanton. Herbst 1949. Drei Wochen, bevor Tschiang Kaischek vom Festland vertrieben worden war. Georges Vater war fort gewesen, hatte Vorkehrungen getroffen, die Familie und ihre dahinschwindenden Besitztümer auf den Inselstaat Taiwan zu bringen. Es waren vier andere Personen im Haus: seine Großmutter; sein Großvater; seine Mutter; seine elfjährige Schwester Yun-ti. Bei Anbruch der Dämmerung drangen maoistische Guerillas, die seinen Vater suchten, in das Haus ein. Neun schwer bewaffnete Männer. Seiner Mutter gelang es, ihn in einem Kamin zu verstecken, hinter einer schweren Eisenplatte. Yun-ti wurde anderswo versteckt, aber die Männer fanden sie. George schaute aus dem Kamin zu, wie seine Großeltern auf die Knie geprügelt und dann mit Kopfschüssen getötet wurden. Ihre Gehirne spritzten an die Wand. In demselben Raum wurden seine Mutter und seine Schwester von allen neun Männern mehrfach vergewaltigt. Jede Schandtat, jede Erniedrigung beging man an ihnen. George war ein Kind, nicht mal sieben Jahre alt: klein, entsetzt, machtlos. Die Guerillas blieben bis drei Uhr am nächsten Morgen und warteten auf Georges Vater, und als sie endlich gingen, schnitten sie Yun-tis Kehle durch. Dann die seiner Mutter. So viel Blut. Sein Vater war zwölf Stunden später nach Hause gekommen — und fand George noch immer in dem Kamin versteckt, unfähig zu sprechen. Nachdem sie nach Taiwan entkommen waren, hatte er über drei Jahre lang kein einziges Wort gesprochen. Und als er sein Schweigen schließlich gebrochen hatte, hatte er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher