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Eistod

Eistod

Titel: Eistod
Autoren: Michael Theurillat
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Kommissar den Menschenauflauf vor der Boutique Grieder. Zwei Wagen der städtischen Polizei standen dort und ein Sanitätswagen versperrte einer Tram die Durchfahrt. Eschenbach beglich die Rechnung, stieg aus und überquerte gemächlich den Platz.
    Eine kleine, adrette Dame stand in der äußersten Reihe auf Zehenspitzen. Es schien, als überlegte sie einen Moment, ob sie die Einkaufstaschen von Louis Vuitton auf den matschigen Boden stellen sollte. »Was ist hier denn los?«, fragte sie.
    »Grieder gibt alles zum halben Preis«, sagte der Kommissar und hustete.
    »Das ist ja der Hammer.« Die Frau bedankte sich.
    »Gern geschehen.« Eschenbach bahnte sich einen Weg durch die Leute. »Geht’s?«, fragte er, als er endlich einen Polizisten vor sich hatte. »Kann ich helfen?« Der Kommissar zeigte seinen Dienstausweis.
    »Nö, alles vorbei«, sagte der Beamte. Er deutete zum Krankenwagen. »Jemand vom Grieder hat angerufen. Hatten einen Stadtstreicher, der neben dem Eingang saß. Einen Weihnachtsbettler eben.«
    »Und?«
    »Tot«, sagte der Beamte. »Mause. Eingenickt vor seinem Hut mit acht Franken fünfzig drin. Mehr weiß ich auch nicht.«
    »Hm.«
    Der Stadtpolizist hob die Schultern. »Ist nicht der erste in diesem Winter.«
    »Ach, wirklich?« Eschenbach nahm das Taschentuch und schnäuzte sich.
    »Ja, irgendwie traurig«, sagte der Beamte. »Den letzten haben wir auf einer Bank beim Landesmuseum gefunden. Erfroren. Das kalte Wetter gibt ihnen vermutlich den Rest.«
    »Herrgott, wir haben doch Schlafstellen.« Eschenbach wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
    »Wir können sie zum Brunnen führen …« Der Polizist machte eine fahrige Bewegung mit der Hand. »Aber trinken müssen sie schon selbst.«
    »Vielleicht, ich weiß es nicht.« Der Beamte schwieg.
    Der Kommissar musste sich noch einmal schnäuzen, dann verstaute er das Taschentuch in der Manteltasche.
    Unter dem Sandsteinbogen, dort, wo der Tote gelegen hatte, sah er den Filzhut mit dem Kleingeld. Daneben, nass und verdreckt, eine schwarze Trainerjacke von Adidas. Eschenbach kam unweigerlich Kathrin in den Sinn; sie besaß ein ähnliches Modell. Nachdenklich schaute er in die Gesichter der Gaffer.
    »Es gibt nichts zu sehen«, rief ein Beamter. Gemeinsam mit einer Kollegin verwies er die Leute hinter das rot-weiße Band der Absperrung.

    Die knapp vierzig Stufen hinauf zur Wohnungstür waren für Eschenbach eine Eigernordwand gewesen. Schweißgebadet lag er auf der Couch im Wohnzimmer. Zwei Grog hatte er intus – darin aufgelöst die Tabletten aus Burris Medikamententüte. Zwei Stunden hatte er dagelegen und geschlafen. Der Anrufbeantworter blinkte, es war kurz vor acht. Auf dem Weg ins Bad lauschte Eschenbach Burris Stimme, die vom Band kam: eine erneute Einladung zu seiner Cocktailparty; zur Seasons Opening, wie er es nannte. Von cool drinks und hot chicks war die Rede. Eschenbach duschte.
    Ob es die Wunderwirkung chemischer Substanzen war oder nur der Drang, vor sich selbst davonzulaufen; der Kommissar wusste es nicht. Er dachte auch nicht darüber nach, als er kurz vor neun mit einer Flasche Bordeaux unter dem Arm die Wohnung verließ.
    »Freut mich, dass du noch kommst.« Christoph Burri trug Jeans und ein weißes Hemd. Die offenen Knöpfe am Hals zeigten solariumgebräunte Haut und den Ansatz eines sportlichen Oberkörpers.
    »Ich trage Wasser in die Limmat«, sagte Eschenbach, als er dem Arzt die mitgebrachte Flasche in die Hand drückte.
    »Ein Cru Bourgeois aus dem Medoc.« Burri hielt die Flasche auf Augenhöhe.
    »Die Grand Crus hast du ja selbst im Keller …« Eschenbach grinste, legte seinen Mantel ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Das ist auch der Grund, weshalb ich gekommen bin.«
    »Dacht ich’s mir.« Burri lachte.
    »Und die hot chicks natürlich.«
    »Dann ab in die gute Stube!«
    Was Burri salopp als gute Stube bezeichnete, war eine geschmackvoll renovierte Villa im Englischviertel-Quartier. Hohe Decken mit Stuck, helle große Räume mit altem Fischgrat-Parkett. Es war das, was sich Intellektuelle leisteten, wenn sie Geld erbten oder – was seltener der Fall war – es auch verdienten. Bei Christoph Burri wusste Eschenbach nicht genau, zu welcher Gattung er gehörte. Die Zeit, in denen praktizierende Ärzte zu den Großverdienern zählten, war definitiv vorbei. Die galoppierenden Kosten im Gesundheitswesen sorgten dafür, dass die einstigen Götter in Weiß auf menschliche Durchschnittsgrößen
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