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Eistod

Eistod

Titel: Eistod
Autoren: Michael Theurillat
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wie es die Weisung 7 -IV des Kommandos der zweiten Kompanie für Elektronische Kriegsführung, kurz EKF, vorsah.
    Schwinn meldete sich beim Kollegen an der Eingangskontrolle zurück, trug Namen, Dienstgrad und Einteilung sowie den Zeitpunkt seiner Rückkehr in das Ausgangsjournal ein, ging in die Mannschaftsräume und stellte sich unter die Dusche. Als Technischer Unteroffizier der EKF-Kompagnie 46 /II teilte er sich mit drei gleichrangigen Kollegen einen Viererschlag. Der Mannschaftsraum, der gleich nebenan lag, bot Platz für achtzehn Nasen; zwölf von ihnen hatten in der Zeit über Weihnachten Urlaub.
    Die zwei Stunden bis zum Beginn seiner Schicht um sechzehn Uhr verbrachte Schwinn im Aufenthaltsraum. Er las die Weihnachtsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung und diskutierte dann mit Korporal Heinz Fässler einen Schaltplan für Richtstrahlantennen.
    »Dass du das immer grad so siehst«, sagte Fässler bewundernd und notierte die Anordnung, die ihm sein Kollege vorgeschlagen hatte. »Ich wäre nie draufgekommen.«
    »Ich seh’s auch nicht immer … aber mit der Zeit wird man besser.«
    »Elender Tiefstapler!«
    Beide lachten, standen auf und spielten am Kasten in der Ecke noch eine Partie Flipper.

    Es war tatsächlich so, wie Fässler sagte: Egal ob es Schaltpläne, Gleichungen oder scheinbar nicht zusammengehörige Zahlenfolgen waren; Konrad Schwinn erkannte das Muster auf einen Blick, sah den Fehler und hatte die richtige Lösung parat. Seit seiner Kindheit hatte Schwinn eine Affinität zu Zahlen. Seine Eltern – der Vater baute Turbinen für Brown Boveri und die Mutter, eine Inderin, unterrichtete Englisch an der Migros – hatten das, was man später als »Hochbegabung« diagnostizierte, lange nicht bemerkt. Erst als der Junge auffällig geworden war und man seitens der Lehrerschaft gedroht hatte, ihn der Schule zu verweisen, griff der Vater ein. Der Junge wechselte auf die Talenta, ein Zürcher Institut für besonders begabte Kinder. Dort blieb er bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr, bis der Vater als Ingenieur für Ölraffinerien ins Ausland musste und die Familie mitnahm. Zuerst drei Jahre nach Libyen, dann für zwei weitere in den Iran.
    Als Konrad Schwinn mit achtzehn zurück in die Schweiz kam und die Aufnahmeprüfung der Eidgenössischen Technischen Hochschule mit links bestand, sprach er, nebst fünf weiteren Sprachen, fließend Arabisch. Vermutlich war es die seltene Kombination von mathematischer und sprachlicher Begabung, die die Einteilung zu dieser kleinen Spezialeinheit ermöglicht hatte. Wie jeder Schweizer musste er Militärdienst leisten und in seiner Vorstellung gab es kaum einen angenehmeren Posten in der Armee als diesen. Die Anlage in Heimenschwand war hochmodern, verfügte über jeglichen technischen Schnickschnack und das Kommando pflegte einen kollegialen Führungsstil. Sie alle waren Mitarbeiter, die man ernst nahm – keine Marionetten. Es wurde nicht befehligt, sondern gefragt; höchstens wurde man gebeten. Und das war für Konrad Schwinn das Wichtigste.
    Der einzige Nachteil bestand darin, dass die Einsätze geheim waren, dass niemand über seine Aufgabe sprechen durfte. Doch weil Schwinn auch sonst nur wenig sprach, am wenigsten über sich selbst, empfand er auch das als einen Vorteil. Abgesehen davon würde kaum jemand verstehen, um was es überhaupt ging.
    Normalerweise absolvierte Schwinn seine Diensttage im August, wenn ein milder Wind über die Alpenwiesen strich, wenn es nach Heu duftete und das Blöken der Schafe ein Stück ländliche Idylle versprach. Diese Zeit war für den jungen Assistenzprofessor der Biochemie ideal; die Kurse fielen in die Semesterferien und boten eine angenehme Unterbrechung seiner Arbeit am Institut. Anfang Dezember, als erneut ein Marschbefehl kam, vermutete er zunächst einen Fehler. Er rief in Bern an und erkundigte sich beim Verteidigungsdepartement. Es war kein Irrtum. Man wisse sehr wohl, hieß es, dass er bereits im Sommer Dienst getan hatte. Weitere Erklärungen gab es keine.
    Pünktlich um vier verließ Schwinn den schlichten Betonbau am Waldrand. Bekleidet mit einem sandfarbenen Anorak, hob er sich nur unmerklich von der winterlichen Umgebung ab. Er stapfte entlang der festgetretenen Spuren durch den Schnee. An seinem Hals baumelte ein Kompass, an der Hüfte ein Beutel mit Fernglas und Digitalkamera. Die Antennenanlage, die man vor drei Monaten installiert hatte, verfügte über eine große Satellitenschüssel mit rund zehn Metern
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