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Eiskalter Sommer

Eiskalter Sommer

Titel: Eiskalter Sommer
Autoren: Wolf S. Dietrich
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Pistole.

    *

    Im Osten begann der Himmel rötlich zu leuchten, als Marie Janssen und Konrad Röverkamp hastig ihr Büro verließen, um Christiansen zu informieren. Während der letzten Stunden hatten sie ein gutes Dutzend Menschen aus dem Schlaf gerissen und mit Bürgermeistern und Behördenleitern, mit Standesbeamten und Feuerwehrleuten telefoniert. Marie hatte sogar in Lüneburg mit Hilfe der örtlichen Kollegen einen ehemaligen Hauptfeldwebel der Bundeswehr aufgetrieben. Stein für Stein hatten sie ein Mosaik zusammengesetzt, das ein nicht ganz vollständiges, aber hinreichend deutliches Bild der Ereignisse im Winter 1978/79 auf jenem Hof geformt hatte. Der Name des Bauern hatte sie schließlich zu einem Pflegeheim geführt, dessen Leiterin von einer Streifenwagenbesatzung aus dem Bett geklingelt worden war und deren Informationen aus der Krankenakte von Susanne Clasen ihnen die letzte Gewissheit gebracht hatte.
    Und dann war die Meldung der Kollegen eingegangen. Sie hatten Ostendorffs silbernen Mercedes gefunden. Verlassen und leer. Nun kämmten die uniformierten Beamten auf Röverkamps Anordnung die Umgebung durch.
    Während sie in der Morgendämmerung durch die menschenleere Stadt rasten, um die Fundstelle des Wagens zu erreichen, in dessen Nähe sie Ostendorff und den Täter vermuteten, gingen Marie die Bilder aus den alten Zeitungen durch den Kopf und vermischten sich mit Szenen, die in ihrer Fantasie entstanden waren. Drei junge Männer auf einem einsamen, eingeschneiten Bauernhof. Ein Bauer und seine Tochter. Die Mutter verreist. Der Vater kommt ums Leben. Laut Feuerwehr ein Unfall. Aber eine kriminaltechnische Untersuchung hat es nicht gegeben .
    „Ich kann es mir kaum vorstellen, aber offenbar ist Susanne Clasen damals von einem der drei Männer geschwängert worden. Und dann ist sie durchgedreht. Ob die sie vergewaltigt haben?“
    Röverkamp zuckte mit den Schultern. „Man weiß offenbar nicht genau, ob ihr Zustand auf eine extreme seelische Belastung oder eine Kopfverletzung zurückzuführen ist. Vielleicht ja auch auf beides.“
    „Jedenfalls scheint ihr Sohn die Herren Evers, Jensen und Ostendorff für ihren Zustand verantwortlich zu machen. Bestimmt auch dafür, dass er Jahre seines Lebens in verschiedenen Heimen und Pflegefamilien zubringen musste. Aber was mich am meisten beschäftigt ...“ Marie unterbrach sich und starrte in die Dämmerung.
    „Was?“
    „Dass dieser Björn Clasen wahrscheinlich seinen eigenen Vater umgebracht hat.“
    „Oder dabei ist, ihn umzubringen“, ergänzte Röverkamp. „Ich frage mich nur wie.“

    *

    Ein stechender Schmerz fuhr ihm in den Nacken, breitete sich blitzartig in seinem Kopf aus, erstickte jeden Gedanken und versenkte sein Bewusstsein in ein dunkles Nichts.
    Als er wieder zu sich kam, zitterten seine Hände. Sein übriger Körper schien erstarrt und fühlte sich eiskalt und unbeweglich an. Trotz eines rasenden Kopfschmerzes erfasste Ostendorff die Situation. Er lag auf dem Rücken in einer Tiefkühltruhe, deren Wände erbarmungslose Kälte ausstrahlten, über sich transparente Kunststofftüren, die mit Seilen gegen Herausdrücken gesichert waren.
    Der Oberkörper eines jungen Mannes beugte sich über ihn. Obwohl er ihn im Gegenlicht nicht richtig erkennen konnte, erinnerten ihn die Gesichtszüge an jemanden. Ostendorff tastete mit steifen Fingern nach der Pistole. Sie steckte noch immer in der Hosentasche. Vorsichtig dirigierte er eine Hand in Richtung der Tasche. Sein Arm schmerzte und seine Finger brannten, aber es gelang ihm, die Waffe zu erreichen und zu umklammern. Zentimeterweise zog er sie hervor. Er schaffte es, die P228 anzuheben und unter die andere Hand zu schieben.
    Als der Mann sich erneut über ihn beugte, hob Ostendorff die Pistole und drückte ab. Die Kugel durchschlug die Abdeckung der Kühltruhe und traf den Unbekannten in den Unterkiefer. Mit fassungslosem Gesichtsausdruck riss er die Hände an den Hals. Ostendorff schoss erneut. Der Schlag ließ den Körper des Mannes erbeben und zur Seite taumeln. Im nächsten Augenblick war er aus Ostendorffs Blickfeld verschwunden.
    Ermattet ließ er die Waffe sinken. Er ruhte ein wenig aus, dann richtete er mit großer Kraftanstrengung die Pistole noch einmal gegen die Abdeckung und leerte Schuss für Schuss das Magazin. Die Kugeln durchschlugen das Plexiglas und hinterließen kleine kreisrunde Löcher. Aber sie zerstörten den Deckel seines eisigen Gefängnisses nicht.
    Ich werde erfrieren.
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