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Eiskalte Versuche

Eiskalte Versuche

Titel: Eiskalte Versuche
Autoren: McCall Dinah
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Schuldgefühl, ein irdisches Bedürfnis zu befriedigen, verflüchtigte sich. Sie gestand sich ein, dass ihr der Salat schmeckte. Während sie weiteraß, ließ sie den Blick zu dem hohen Gipfel schweifen, dessen Silhouette sich jenseits der Gartenanlagen des Hotels in den Himmel erhob.
    White Mountain.
    So lange sie zurückdenken konnte, war dieser Berg die Kulisse gewesen, vor der sich ihr Leben abgespielt hatte. Irgendwann, in ferner Vorzeit, waren unter gewaltigem Druck und unvorstellbarer Hitze die tektonischen Platten tief in der Erde in Bewegung geraten. Sie hatten sich an die Oberfläche geschoben, und eine Gebirgskette war aufgefaltet worden, zu der auch der White Mountain gehörte.
    Isabella hatte sich oft gefragt, wie er zu seinem Namen gekommen war. Das Felsgestein war tiefschwarz, und dunkle Wälder bedeckten die steilen Flanken bis auf halbe Höhe. Die Vermutung ihres Vaters war, der Berg hätte seinen Namen wohl in den Wintermonaten erhalten, weil er dann meist von Schnee bedeckt war.
    Nach einer Weile bemerkte Isabella, dass ihr Teller leer war. Beim Aufstehen stellte sie fest, dass auch ihre Traurigkeit nachgelassen hatte. Sie wollte lächeln, aber ihre Lippen mochten die Bewegung nicht mitmachen. Ihren Vater hätte es gefreut, sie essen zu sehen. Er war immer der Meinung gewesen, dass die Welt mit leerem Magen zu düster aussah.
    Nach einem letzten Blick auf den Gipfel kehrte sie ins Haus zurück und schloss leise die Verandatür hinter sich. Sie stellte Teller und Gabel in die Spülmaschine und beschloss, in ihr Zimmer zurückzukehren. Ein Leben ohne ihren Vater würde nicht leicht für sie werden, aber sein Tod war eine unabänderliche Tatsache, die sie hinnehmen musste. Die Onkel gehörten alle der Generation ihres Vaters an. Isabella wollte nicht an den Tag denken, an dem sie auch diese ihr nahe stehenden Menschen für immer verlieren würde. Jetzt betrübte sie am meisten, dass Onkel Frank die Nachricht vom Ableben ihres Vaters noch bevorstand. Er würde erschüttert sein und sich schuldig fühlen, dass er ihr bei diesem schweren Schicksalsschlag nicht hilfreich zur Seite gestanden hatte. Isabella wünschte, er würde endlich zurückkommen oder wenigstens anrufen. So lange war er noch nie fort gewesen.
    Ein paar Augenblicke später betrat sie ihr Zimmer und legte sich wieder ins Bett. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie, von Erschöpfung überwältigt, einschlief.
    Detective Mike Butoli stellte seinen unverletzten Fuß auf die Bordsteinkante und stemmte sich aus dem Autositz hoch. Dann trat er vorsichtig einen Schritt zurück, um die Wagentür zuzuschlagen, und humpelte los zum Labor der Spurensicherung. Die Gerichtsmedizin hatte die Autopsie an dem Getöteten, dessen Fall er bearbeitete, noch immer nicht vorgenommen. Über die Verzögerung ärgerte er sich.
    Ein unbekannter Toter in einer Gasse von Brighton Beach wurde nicht mit Vorrang behandelt. Es lagen noch mehr namenlose Leichen in den Kühlkammern. Trotzdem wog für Butoli dieser eine Fall schwerer als andere. Sie hatten die Fingerabdrücke des Toten in den Computer gegeben und gehofft, etwas über ihn zu finden. Auf Vorschlag von Lieutenant Flanagan hatten sie die Daten außerdem an Interpol weitergeleitet. Wegen der hohen Zahl russischer Einwanderer in Brighton Beach konnte man fast immer damit rechnen, fündig zu werden.
    Butoli war seit fast zwei Jahrzehnten bei der Polizei, die letzten zwölf Jahre als Detective. Er hatte mehr menschliche Niedertracht und Verdorbenheit zu sehen bekommen, als für einen einzelnen Menschen zumutbar schien. Seine Fälle pflegten ihm schon lange nicht mehr an die Nieren zu gehen.
    Dieser jedoch war auf dem besten Wege dazu.
    Vielleicht lag es daran, dass sein schmerzender Schädel und der gebrochene Zeh darum wetteiferten, welcher Körperteil ihm die größeren Qualen bereiten konnte. Oder seine Schuldgefühle machten ihn anfällig; immerhin war er sechs Monate trocken gewesen und dann wieder rückfällig geworden. Als er gestern Abend in dem Häuserdurchgang gestanden und in das Gesicht des Alten gesehen hatte, war ihm unwillkürlich die Frage durch den Sinn gegangen, welche Lebensreise hinter diesem Menschen lag, der nun sein Ende in einer schmalen Gasse von Brighton Beach gefunden hatte.
    Jedenfalls hatte er wieder eine unbekannte Leiche; das Opfer einer Gewalttat, für die es keine Zeugen gab. Er musste klären, wie der Tote hieß und was ihn nach Brighton Beach geführt hatte. Nachdem er von der
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