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Eiskalte Versuche

Eiskalte Versuche

Titel: Eiskalte Versuche
Autoren: McCall Dinah
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eine Zigarette an. Als das Ende aufglomm und der Tabak zu brennen begann, inhalierte er tief und wartete auf die Wirkung. Der Nikotinstoß kam schnell. Er benebelte seine Sinne und milderte die innere Anspannung. Rostow atmete den Rauch langsam durch die Nase wieder aus und wandte sich um. Der alte Mann, an dessen Fersen er sich geheftet hatte, war noch in Sichtweite. Also konnte er sich einen zweiten Zug aus der Zigarette leisten. Dann nahm er die Verfolgung wieder auf, immer einen Häuserblock Abstand haltend. Beim Gehen ließ er den Blick an den Schaufenstern entlangschweifen und begutachtete, was Amerika an Überfluss und Wohlstand zu bieten hatte. Nicht zum ersten Mal spielte er den Gedanken durch, wie es wäre, wenn er hier bliebe. Nachdem er seinen Auftrag ausgeführt hatte, natürlich. Er liebte seine Heimat, aber das nicht enden wollende Chaos in der Staatsführung stieß ihn ab – nichts war mehr wie früher. Damals, in der kommunistischen Sowjetunion, war er der jüngste und beste Geheimagent gewesen, angesehen in den höchsten Kreisen, stolz auf seinen Status als Mitarbeiter des KGB und stolz auf seinen gestählten Körper. Die Frauen hatten ihn angehimmelt, und Kollegen beneideten ihn. Seine Vorgesetzten hatten ihm rückhaltlos vertraut.
    Heute tat Rostow nichts mehr. Das nannte man Ruhestand. Für ihn war es, als hätte man ihn begraben, bevor seine Zeit zu sterben gekommen war. Er fühlte sich noch stark, auch wenn er über sechzig war. Noch immer war sein Bauch flach und hart, und sein Gesicht hatte mit den Jahren an Ausdruckskraft gewonnen, statt alt zu wirken.
    Ironischerweise war der Grund, warum er aufs Abstellgleis geschoben worden war, nicht sein Alter. Schuld waren seine Schwierigkeiten, sich auf dem neuesten Stand der technischen Entwicklungen zu halten. Ein Spion, der sein Handwerk zeitgemäß ausüben wollte, musste mit allem umgehen können, vom Laser bis zum Computerchip, und das hatte Rostow überfordert. Also hatte er Tag für Tag in Spelunken herumgesessen, zusammen mit Männern, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren war. Abends hockte er in seiner Einzimmerwohnung und sah sich auf einem Schwarzweißgerät mit Fünfundvierziger-Bildröhre das Programm des Staatsfernsehens an, während durch den Spalt unter der Eingangstür die Kochdünste seines Nachbarn drangen, wenn dieser Kohl und Kartoffeln kochte.
    Rostow und seiner Familie hatte die Ära der Sowjetunion nur Gutes gebracht. Der Kommunismus hatte sein Land stark gemacht. Als er unterging, war seine Welt in Schutt und Asche versunken, in Stücke geschlagen wie die Berliner Mauer. In den Jahren nach dem Zusammenbruch hatten die Menschen auf den Straßen gestanden und ihre Habe verkauft, um nicht verhungern zu müssen. Viele verloren ihr Dach über dem Kopf. Die langen Schlangen vor Bäckereien und Lebensmittelgeschäften ließen sich noch schwerer ertragen, weil die wenigen Dinge, die es gab, von denen weggekauft wurden, die das nötige Geld hatten.
    Mittlerweile hatten sich die Verhältnisse gebessert, aber wie früher würden sie nie wieder sein. Für Rostow hatte das Wort Demokratie einen obszönen Beiklang und war wie ein Fluch. Die Mafia besaß mehr Macht als die Regierung. Rostow hatte gelernt, sich in die Verhältnisse zu fügen; das war es, was er am besten konnte. Der Tagesablauf, den er sich angewöhnt hatte, bot keine großen Aufregungen, aber er genoss in seinem Ruhestand eine Behaglichkeit, die er nicht einmal als Kind gekannt hatte.
    Dann, vor einer Woche, hatten sie vor seiner Tür gestanden. Vier säuerlich blickende Männer, die ihm auftrugen, unverzüglich seinen Koffer zu packen. Innerhalb weniger Stunden erhielt er die Befehle; man stattete ihn mit amerikanischem Geld und einem Mobiltelefon aus, und er wurde in ein Flugzeug nach New York gesetzt. Der Grund für seine Reaktivierung brachte Rostow beinahe zum Lachen. Man hatte ihn gewählt, weil er ein Teil der Vergangenheit war. Seine Reise nach Amerika diente nur einem Zweck: Er sollte ein Gespenst finden.
    Gut. Jetzt war er hier und folgte einem alten Mann, dessen Schultern schlaff herabhingen und der eine Vorliebe für Borschtsch zu haben schien. Wie ein Geist wirkte der Alte nicht, aber nach der Gesichtsfarbe zu urteilen, würde er bald einer sein.
    Im Augenblick wartete er an einer Kreuzung. Rostow blieb ebenfalls stehen und wandte sich dem Schaufenster des Juweliergeschäfts neben sich zu. Passanten mussten glauben, dass sein Interesse den Edelsteinen
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