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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis
Autoren: Majgull Axelsson
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Dann muss er neuen Kaffee kochen. Noch bevor er angekommen ist, streckt er die Hand aus, dreht den Wasserhahn auf, lässt Wasser in die Kanne laufen. Blinzelt noch einmal, holt die Kaffeedose hervor und zählt sorgfältig sieben Löffel ab. Er braucht heute Nacht starken Kaffee. Richtig starken Kaffee.
    Etwas gleitet draußen vor dem Fenster vorbei, und es braucht einen Moment, bis er begreift, dass es eine Küstenseeschwalbe ist, ein einsamer Vogel, der um die Brücke fliegt. Er geht ans Fenster und schaut ihm hinterher, sieht, wie er zum Deck weiter unten segelt, fast ans Dach des Labors stößt und dann wieder nach oben zieht, wie er auf seinen weißen Schwingen immer höher steigt und weit übers Eis fliegt.
    Wunderschön. Hätte man wohl gesagt, wenn man eine Frau wäre.
    Auch das Wetter ist wunderschön, das kann er jetzt erkennen. Die Sonne scheint. Der Himmel wölbt sich blau über die Welt, etwas heller am Horizont, aber weiter oben intensiv frostig hellblau. Nicht eine Wolke ist zu sehen. Das Eis ist voll mit türkisfarbenen Pfützen, vielleicht etwas mehr als üblich, vielleicht sind sie auch ein bisschen tiefer. Ja, leider. So ist es nun einmal. Auch hier oben wird es wärmer. Das ist nicht zu leugnen. Vielleicht ist Leif Eriksson einer der letzten Menschen in der Weltgeschichte, der mit einem Eisbrecher durch die Nordwestpassage fährt. Der Gedanke lässt ihm Tränen in die Augen steigen, und als er das bemerkt, wird er wütend. Schnell wischt er sich die Augen. Was für ein verfluchter Blödsinn! Er ist einfach nur müde, viel zu müde. Jetzt braucht er wirklich seinen Kaffee.
    Er umfasst den Becher mit beiden Händen und geht langsam auf der Brücke hin und her, spürt, wie das Koffein in seine Adern dringt, wie sein Rücken sich streckt, die Augen nicht mehr blinzeln, das Gehirn langsam wieder das alte wird. Er träumt nicht mehr. Denkt nicht mehr jede Menge albernen Mist. Er ist ein zuverlässiger, vernünftiger Steuermann, sogar einer der besten seines Fachs, ein ehrlicher Kerl, der seinen Mann steht und übers Eis schaut. Er lässt sich nicht dazu verlocken, das Ganze von oben zu sehen, sich vorzustellen, er säße rittlings auf einem Satelliten und führe durch das Weltall, während er auf die Erde hinabsähe, diesen blauen Planeten mit seiner kleinen weißen Mütze …
    Oh, Scheiße. Er nimmt noch einen Schluck Kaffee, einen großen Schluck, und tritt ans Fenster, lehnt die Stirn an das kühle Glas. Er späht weit in die Ferne, versucht jedes Detail auf dem Eis bis zum Horizont zu erkennen. Es kann ja sein, dass sie auf dem Weg in ein Gebiet mit offenem Wasser sind. O ja. Da hinten, ganz weit hinten ist es sehr blau. Er stellt seinen Becher ab und dreht sich um, geht schnell zum Steuerpult, um sein Fernglas zu holen, bleibt aber dann stehen. Eine Bewegung. Da ist doch jemand an Deck.
    Und tatsächlich, da ist sie. Da taucht sie vor dem Labor auf.
    Es ist dieselbe Frauensperson wie beim letzten Mal. Diese Blasse. Die mit den Kraushaaren. Aber heute Nacht ist sie ordentlich angezogen, hopst nicht im bloßen Nachthemd herum wie letztes Mal. Blaue Jacke, blaue Hose, feste Stiefel. Aber keine Handschuhe und keine Mütze, ihr Haar wird vom Wind hochgehoben, sie muss es sich aus dem Gesicht halten.
    Was macht sie jetzt schon wieder da draußen? Will sie wieder Müll loswerden? Schläft diese Person eigentlich nie?
    Sie steigt auf das Trittbrett ganz vorn am Bug, beugt sich über die Reling und schaut aufs Eis hinab, dann hoch zum Himmel. Eine ganze Weile steht sie vollkommen still da und schaut nach oben, dann lässt sie plötzlich die Reling los und breitet die Arme aus. Es sieht aus, als wollte sie fliegen. Oder die ganze Welt umarmen.
    Leif Eriksson sieht sie an. Er denkt nichts, er fühlt nichts, steht nur vollkommen reglos da und betrachtet sie. Dann breitet auch er ganz langsam die Arme aus. Plötzlich will auch er fliegen. Plötzlich will auch er die ganze Welt umarmen, diese makellose, einzigartige Welt, in der er lebt. Er muss schmunzeln. Lächelt etwas zögernd, ein unsicheres Lächeln. Ja. Er lebt. Er hat sein ganzes Leben genau in dieser Welt gelebt.
    Dann blinzelt er, erinnert sich daran, wer er ist und wo er ist, nimmt das Fernglas, hebt es hoch und betrachtet stumm und ernst das offene Meer.
     
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