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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis
Autoren: Majgull Axelsson
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sinken. Warum sollte sie sich verstecken müssen? Was hat sie getan? Doch die Angst ist größer, die Angst, die nur ein Gefühl ist, kein Gedanke, und sie bringt sie dazu, den Kopf zu drehen, ihr Profil nach rechts zu wenden, damit Robert, der links von ihr tanzt, sie nicht sieht, sie nicht wiedererkennt, sich nicht an sie erinnert. Aber mitten in der Bewegung erhascht sie doch einen Eindruck. Robert tanzt eng mit Amanda. Er hat die Augen geschlossen. Er scheint es zu genießen.
    Sie geht hinaus aufs Seitendeck. Ohne Jacke und Stiefel. Drückt nur die Tür auf und geht hinaus, lässt den Eiswind ihr Haar packen und ihre Bluse am Rücken schütteln, geht vorsichtig über das eisglatte Deck, bis an die Reling. Beugt sich vor, verbirgt ihren Kopf in den Armen und lässt die Gedanken eindringen. Wird sich klar über alles.
    Das ist er. Robert. Robban. Natürlich ist er das. Der ewige Spaßvogel. Der lebensgefährliche Narr. Natürlich. Und trotzdem hat sie ihn nicht wiedererkannt, bis zu diesem Abend nicht begriffen, wer er ist. Erst als er den Schlips aus der Tasche zog und so tat, als wollte er sich aufhängen.
    Vierzig Jahre seit dem letzten Mal. Und trotzdem ist ihm nichts Besseres eingefallen.
    Sie hebt den Kopf ein wenig. Starrt einen Moment lang auf die riesigen Eisblöcke, die erzürnt ihr türkisfarbenes Inneres direkt neben ihr gen Himmel kehren, die rotieren und sich drehen, die versuchen, sich den Wolken entgegenzurecken, aber kein Glück damit haben und ins Meer hinuntergedrückt werden, die gepresst und eingezwängt werden, die geschoben werden und sich sperren und von anderen riesigen Eisblöcken hinuntergedrückt werden.
    Susanne richtet sich auf, kehrt dem zerschlagenen Eis den Rücken zu, wühlt in ihren Taschen nach den Zigaretten. Zündet sich mit zitternder Hand eine an. Steckt die Hände in die Taschen. Spürt, wie sie friert, aber belässt es dabei. Leistet keinen Widerstand. Genießt stattdessen, kälter zu werden, zu erkalten, kühl und eisig zu werden, denkt kurz, dass sie wirklich so leben könnte, dass sie den Rest ihres Lebens an Bord und auf Deck der Oden verbringen könnte, nur in eine dünne Bluse gekleidet, auch wenn es sicher nicht so lange dauern würde. Sie lächelt ein wenig über ihre eigenen Gedanken, nimmt dann einen tiefen Zug und dreht sich wieder um, betrachtet noch einmal die dröhnende Eismühle der Oden. Sie könnte töten. Sie könnte ein Menschenleben in Sekundenschnelle vernichten. Sie könnte Sehnen und Muskeln zerreißen, Schädel und Skelett zermalmen …
    Unfug. Sie muss denken. Nicht nur fühlen.
    Robban ist also an Bord der Oden. Er ist ein ziemlich betagter Dozent der Chemie geworden, was, wenn man sein Alter bedenkt, wohl als keine glänzende Karriere zu betrachten ist. Selbst sieht er sich offenbar immer noch als einen coolen Typ. Er hat langes Haar, einen Pferdeschwanz, obwohl er ihm nicht steht, obwohl sein Haar dünn und grau ist. Er hat Falten im Gesicht, und er kann nicht verhehlen, dass er schönere Männer beneidet, jüngere Männer, Männer, die erfolgreicher sind als er. Und er versucht immer wieder Frauen zu verführen, die kaum geboren waren, als er seine fünfzehn Minuten herostratischer Berühmtheit hatte.
    Das ist Robban. Robert. Ein ungewöhnlich fieser kleiner Teenager im Körper eines alten Sacks. Der Mann, der Björn in den Wald getrieben hat. Der Mann, der einst Susannes Leben geformt hat, indem er in Nässjös Folkets Park eine Pantomime aufführte. Der Mann, der die Freude in Inez’ Leben zerstört und Elsies zu einem Bußgang hat werden lassen. Und jetzt ist er hier. In Susannes Reichweite. Und sie ist in seiner Reichweite.
    Sie hält mitten in einem Zigarettenzug inne. Starrt vor sich hin. Hustet. Sieht und versteht das, was sie schon viel früher hätte sehen und verstehen müssen. Er ist es tatsächlich. Natürlich. Es ist Robban, der immer wieder in ihre Kabine eingedrungen ist. Es ist Robban, der ihre Kleider herausgerissen hat, an die Wände pisste und FOTZE auf den Spiegel geschrieben hat. Es ist Robban, der das Bild einer toten Frau in ihre Koje gelegt hat, er ist es, der sich darübergebeugt und sorgfältig einen Ledergürtel um einen unsichtbaren Hals gezurrt hat.
    Er hasst sie. Er weiß, wer sie ist, und er hasst sie. Und er hasst sie, weil sie einmal einen Bruder hatte.
    Sie nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und spürt plötzlich den Tabakgeschmack. Eklig. Widerwärtig. Abstoßend. Sie schnipst die Kippe über die
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