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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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wärest, würde ich dir jetzt eine Zigarette anbieten.«
    »Und Max in Kriegsgefangenschaft. Verdammt, verdammt, verdammt! «
    »Wenn Georg und Eckhardt überlebt hätten«, erwidert Nelly ohne Überraschung, »wären sie genau dort.«
    »Selbst wenn der Anschlag geglückt wäre, hätte Deutschland kapituliert und wären die Offiziere in Gefangenschaft geraten«, sagt Max. »Ich gehe also auch für meine Brüder. Nimm’s nicht so schwer, Fritzi. Ich wüsste sowieso noch nicht wohin.«
    »Nach Lautlitz! Das ist doch dein Zuhause!«
    »Lautlitz?«, fragt er zurück. »Wo mich jeder Baum, jeder Stein an meine Frau und meine Brüder erinnert? Für mich gibt es nur noch einen Grund, nach Lautlitz zu gehen. Ich will und ich werde Lexi nach Hause bringen. Aber bleiben werde ich sicher nicht.«
    Seit sie uns von Capri nach Paris geflogen haben, kann ich meinen Albträumen einen weiteren hinzufügen. Im offenen Lastwagen stehen wir am Fuße des Montmartre inmitten einer sich schnell versammelnden Menschenmenge, Steine fliegen, Flüche und Schreie gellen ins Ohr. Frauen ziehen sich am Wagen hoch und spucken uns an. »Les boches! Les boches!«
    Ich fühle Hände nach mir greifen, habe keinen Zweifel, dass sie mich jeden Augenblick vom Lastwagen zerren und zerreißen. Keine Ahnung, ob wirklich jemand an mir gezogen hat, aber jede Nacht blicke ich von Neuem in die hasserfüllten Gesichter. Eine Stunde ließen die amerikanischen Posten uns dort stehen, ohne einzuschreiten. Hinterher hörten wir, es sei ein Missverständnis gewesen, man habe der Kommandantur in Paris gefangene Gestapo-Familien angekündigt.
    Wer hätte das tun sollen und warum? Ich vermute, es war schlicht von Deutschen die Rede gewesen, und für die, die uns in Empfang nahmen, war deutsch und Gestapo dasselbe.
    Und nun dies. Hilflos sehe ich zu, wie Max sein Bündel schnürt, und es kommt mir vor, als sei die Stunde auf dem Lastwagen nichts als die Ouvertüre zu einer neuerlichen Wendung zum Bösen gewesen.
    Am Vormittag haben wir erfahren, dass er nicht mit uns nach München weiterfliegt, sondern gemeinsam mit Fritz Thyssen, Hjalmar Schacht, Fabian von Schlabrendorff und anderen zu weiteren Verhören nach Frankfurt gebracht wird. Ausgerechnet Max, ein Feind Hitlers von Anfang an, gilt als »belastet mit nationalsozialistischer Vergangenheit«. Kriegsteilnehmer, verheiratet gewesen mit einer Ingenieurin im Dienst der Rüstungsindustrie, und seine Brüder, heißt es, hätten zwar ein Attentat auf Hitler verübt – doch zuvor aktiv am Angriffskrieg mitgewirkt.
    »Erwarten Sie von einem Menschen, dass er derselbe bleibt, der er immer war?«, hielt Max seinem Vernehmer entgegen. »Das wäre völlig unhistorisch!«
    »Aber die Feinheiten deutscher Geschichte haben keinen Platz im Protokoll. Die Amerikaner haben Heimweh und wollen nach Hause«, erkennt er mit mehr Verständnis als irgendeiner von uns. »Sie sind in einen Krieg hineingezogen worden, mit dem sie nichts zu tun hatten, und wollen klare, einfache Antworten.«
    Seit Innsbruck hatte ich gemerkt, dass Max sich aufzurappeln versuchte. Als er am Flughafen Orly von uns getrennt und abgeführt wird, spüre ich, wie restlos gleichgültig ihm von Neuem wird, was nun geschieht.
    Der Flug nach München ist unruhig, als wäre der Himmel erschüttert von der Vielzahl verzweifelter Stoßgebete, die von einer aufgewühlten Erde zu ihm steigen.
    »Du kannst von einem Menschen, dem das Rückgrat gebrochen wurde, nicht erwarten, dass er je wieder aufrecht geht«, sagt Nelly schlicht.
    Vielleicht hält sie sich deshalb so gerade, und ist so hart und streng geworden. Damit es ihr nie passiert.

N EUNZEHN
    Ein im Sturm geknickter Baum, ein zerstörtes Vogelnest ... in Lautlitz finde ich vieles zu meinem Trost. Eine verwitterte Brücke, ein verbrannter Strauch, und auch hier fehlt ein Stück, und hier, und hier, und es wächst bereits Gras darüber und meine Schritte rascheln im Laub vom vergangenen Jahr. Die Erde nimmt auf und schafft neu; was ich verloren glaubte, ist in Wahrheit vielleicht schon ein Teil von mir, und auch der Mut, der langsam, ganz langsam zurückkehrt, nicht allein mein eigener.
    Am Eingang zum Wanderweg hängt ein Schild, das auf Deutsch und Französisch vor herumliegender Munition warnt. Mutter würde verrückt, wenn sie wüsste, dass ich trotzdem auf den Berg steige – und wie oft ich schon hier war! Wenn auf dem Weg etwas vergraben wäre, hätte es mich längst erwischt.
    »Mutter und ich sind in den
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