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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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Warnungen nicht zur Kenntnis nahm. Er, der Fremdarbeiter – wir, die deutschen Mädel. Er hatte keinerlei Respekt vor uns!
    Wenn ich es nicht melde, wird Antonia es tun, dachte ich. Wie stehe ich dann da?
    Piotr leugnete nicht einmal, als wir den Bauern zu der Stelle führten. Ja, ist meins, sagte er trotzig und sah uns nicht an.
    Aber angezeigt hat ihn nicht der Bauer, sondern dessen Frau. In den Brunnen geworfen hat ihn nicht der Bauer, sondern die Nachbarschaft. Mit Schaufeln und Mistgabeln auf seine Hände eingehackt, damit er aufhörte, sich an die Kurbel zu klammern, über seine schrillen, entsetzten Schreie gespottet. Ihn mit einem Haken aus dem Wasser gezogen, als er schon halb ertrunken war. Der Brunnen wurde ja noch gebraucht, für die Tiere.
    Jetzt reicht es, es ist gut!, rief der Bauer, als sie anfingen, auf Piotr einzutreten. Aber niemand achtete auf ihn. Alles geschah jetzt schweigend, ohne einen Laut. Es war der Moment, in dem Antonia den Versuch machte wegzulaufen.
    Das schaut ihr euch an, ihr zwei!, stieß der Bauer hervor. Ihr schaut euch das an!
    Die Abdrücke seiner Hand waren noch an meinem Arm, als ich in Berlin ankam.
    Piotr war bewusstlos, als sie ihn zu den Eichen schleppten, aber sie kippten ihm so lange Wasser ins Gesicht, bis er wieder zu sich kam. Einen Bewusstlosen zu hängen, ergibt wohl keinen Sinn.
    Und es waren Leute, die wir kannten, Leute, mit denen wir auf dem Heuwagen gestanden, Kartoffeln gelesen und beim Maifest gelacht hatten.
    Und der Bauer dachte dasselbe über uns, schon am Abend konnte ich das sehen: Es waren Mädchen, die ich kannte.
    Ihr habt nichts falsch gemacht, Fritzi! Falsch ist nur, wie du darüber denkst!
    Ellen war stolz. Zwei ihrer Jungmädel! An den Lagernachmittagen hob sie uns hervor, indem sie alle Fragen nun zuerst an uns richtete, wie Musterschülerinnen, auf die sie sich verlassen konnte. Dass sie mich nach dem vierzehnten Geburtstag an den BDM würde abgeben müssen, tat ihr jetzt schon leid – Antonia war zu ihrer Freude ein paar Monate jünger.
    Auf dem Hof änderte sich nichts. Der Bauer traute sich nicht, etwas gegen uns zu sagen, und Romek hatte schon vorher nicht mit uns gesprochen, da er kein Deutsch verstand. Zehn Tage später kam ein neuer Pole, Romek zwo, aber seinen richtigen Namen erfuhr ich nicht mehr. Romek zwo ging uns verständlicherweise aus dem Weg.
    »Und deinem nächsten Brief lag Geld zu meinem Geburtstag bei«, sage ich zu Mutter. »Es reichte für eine Fahrkarte nach Berlin.«
     
    Es ist still. Wie schnell diese Geschichte erzählt ist! Als hätte ich jedes Wort in Gedanken schon hundertmal bewegt und ausgesprochen, und auch der Rest ist keine Überraschung. Die betroffenen Gesichter. Mutters mühsam unterdrückte Tränen. Omamas plötzlicher, heftiger Ausbruch: »Wie ich hasse, was dieser Hitler aus uns gemacht hat! «
    Aus uns , ruft sie, die Liebe. Denn sie sind mir ja zugetan, sie sind meine Familie und sie sagen, womit zu rechnen war: Du bist nicht schuld, du konntest es doch nicht wissen!
    Nichts, was ich mir selbst nicht wieder und wieder einzureden versucht habe. Aber schützt das Fehlen einer Absicht vor Schuld? Macht das Aussprechen einer Schuld sie wieder gut? Muss dem Aussprechen nicht eine Tat folgen?
    Wenn sie ehrlich wären, würden sie etwas anderes zu mir sagen als: Arme Fritzi, du konntest es nicht wissen. Aber hätte ich die ganze Wahrheit erzählt, wenn ich erwartet hätte, dass sie ehrlich sind?
    Für den Augenblick, das muss ich gestehen, ist Trost das Einzige, was ich ertragen kann. Doch dass es nicht dabei bleiben darf, ist gewiss.
    »Mit dieser Geschichte«, erkläre ich meinem Vater, »habe ich ausdrücken wollen, dass ich keine Fragen mehr habe. Ich weiß, was es war, dem ihr ein Ende bereiten wolltet, und ich bin sehr dankbar, dass ihr es versucht habt.«
    Um eine ehrliche Antwort zu bekommen, brauche ich nur auf einen Berg zu steigen.

Z WANZIG
    Wundert es dich, dass wir, seit er tot ist, nicht ein einziges Mal über Hitler gesprochen haben? In Wahrheit habe ich nicht das Geringste empfunden, als die Nachricht kam, dass er im Bunker der Reichskanzlei Selbstmord begangen habe. Sein Tod war wie eine Fußnote an dem Tag, an dem ich Julius dein Geheimnis anvertraute, dem Tag, an dem wir in der Kapelle am See eine wunderschöne Abendandacht feierten zu Ehren der verstorbenen Prinzessin Mafalda. Wie schnell an Bedeutung verliert, was eben noch Mittelpunkt der Welt war! Hitlers Tod kam so spät, dass es
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