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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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nichts mit mir zu tun haben wollen, seit sie wissen, zu welcher Familie ich gehöre. Andere laden mich übers Wochenende nach Hause ein und stellen mich Eltern vor, die mich mit Wohlwollen überschütten. Ob man je wieder ein normales Leben führt?
    Was meine Selbstanzeige betrifft, habe ich es gemacht, wie wir besprochen haben. Bei der Rückkehr vom Weihnachtsfest in Geppingen fand ich gestern diesen Brief. Hör dir das an:
    »Sehr geehrtes Fräulein Bredemer, nach eingehender Überlegung haben wir beschlossen, Ihrer Anzeige nicht nachzugehen. Eswäre so gut wie unmöglich, in der heutigen sowjetischen Zone an die notwendigen Informationen zu gelangen und Zeugen für das Geschehen zu finden, das Sie schildern. Das Dorf Oschgau ist unseres Wissens nicht mehr existent, die Bewohner im Zuge des Vormarschs der Roten Armee geflohen oder ums Leben gekommen.
    So schmerzlich und aufwühlend Ihnen die beschriebenen Ereignisse scheinen, so wenig ungewöhnlich sind sie leider im Lichte dessen, was unser Volk in den vergangenen sechs Jahren sowohl ausgelöst als auch selbst erlitten hat. Es ist anzunehmen, dass die Beteiligten Ihrer Geschichte ihr Schuldigwerden, soweit man im Einzelfall davon sprechen kann, bereits gebüßt haben durch Verlust ihrer Heimat oder ihres eigenen Lebens. Bitte ermöglichen Sie sich selbst und denen, denen es vergönnt war zu überleben, Seelenfrieden auch im Blick darauf, dass in unserem Volke jeder Einzelne gebraucht wird für einen Wiederaufbau und Neubeginn. Hochachtungsvoll (unleserliche Unterschrift), Kommissariat der französischen Besatzungszone, Baden-Baden«
    Wenig ungewöhnlich! Seelenfrieden! Warum sagen sie nicht gleich: Was interessiert uns ein polnischer Fremdarbeiter, wir haben genug mit uns selbst zu tun! Ich schätze, ich werde es weiter versuchen müssen. Irgendwann werden meine Briefe schon jemanden erreichen, der sich für Piotr interessiert.
    Morgen geht’s zurück ins Internat. Ich bin gerne da. Was du natürlich weißt, denn es ist ja nicht so, als ob ich dich hierließe ...! Die Grüße von dir habe ich auch bekommen.
    Ja, da staunst du! Am ersten Weihnachtstag hat Tante Josi mich zu einer Bekannten mitgenommen, einer Journalistin aus Berlin, die im letzten Kriegswinter nach Geppingen geflüchtet und dort hängen geblieben ist. Endlich lernte ich eine der namenlosen Helferinnen kennen, die uns über Harald Poelchau im Gefängnis versorgt hatten! Sie heißt Ursula Kardorff, war eine gute Freundin von Fritzi Schulenburg, der nach dem 20. Juli hingerichtet wurde, und freute sich, jemanden mit dem gleichen Vornamen zu treffen.
    »Übrigens kannte ich deine Tante Lexi«, sagte sie plötzlich. »Wir haben uns einige Male in Berlin getroffen und Sachen für unsere Schützlinge getauscht; einmal brachte sie mir ein Paket für meine Freundin Reinhild Hardenberg und bekam eine Jacke für eine gewisse Ina. Lexi war absolut erstaunlich. Es gab nichts, was sie unversucht gelassen hätte, um ihren Gefangenen, wie sie euch liebevoll nannte, das Leben zu erleichtern. Habt ihr eigentlich je ein Weihnachtsbäumchen bekommen?«
    Mir verschlug es die Sprache. Obwohl ich es damals doch gleich gewusst hatte!
    »Eine verrückte Idee: einen Weihnachtsbaum in ein KZ im Osten zu fliegen, ohne überhaupt eine Besuchserlaubnis zu haben. Einen Baum abzugeben und wieder nach Hause zu fliegen!« Ursula Kardorff lachte, es klang traurig. »Entschuldige, das war eine sehr dumme Bemerkung. Deine Tante war alles andere als verrückt. Aber diesen schiefen kleinen Weihnachtsbaum habt ihr nie bekommen, nicht wahr?«
    Demnächst wird dein Name in eine Erinnerungstafel gemeißelt, soll neben den Namen von Onkel Georg und Onkel Eckhardt stehen und die entsprechenden Lebensdaten auch mit dabei. Lebensdaten! Ich glaube, euer Leben ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Dafür habt ihr viel zu viele Spuren hinterlassen.
    Ich bin gespannt, welche du noch ausgelegt hast, Lexi. Aber eins darfst du mir glauben: Ich bin nicht mehr leicht zu überraschen!

N ACHWORT
    Rund vierzig Anschlagspläne und erfolglose Attentatsversuche auf das Leben Adolf Hitlers hatte es bereits gegeben, als am 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier »Wolfsschanze« Rastenburg/Ostpreußen die Bombe explodierte, die Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg während einer Lagebesprechung unter einem Kartentisch deponiert hatte. Er selbst war zu diesem Zeitpunkt auf dem Rückweg nach Berlin, um die nächste Phase der »Operation Walküre«
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