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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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zur Fähre. Als sie einstiegen, war Fey noch sehr gefasst, doch kaum schmetterte das Boot sein alles durchdringendes Aufbruchssignal, brach sie in Tränen aus und konnte nicht aufhören zu weinen. Rasch drehten wir uns um, beinahe rannten wir davon, damit sie uns nicht mehr sehen musste.
    Max machte einen sehr langen Spaziergang, nachdem Fey abgereist war. Bis zum Abend sahen wir ihn nicht wieder, und auch wenn er bei seiner Rückkehr versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, spürte ich doch, wie deutlich es ihm nach ihrem Abschied wieder vor Augen stand: Ihm war nichts geblieben.
    Die Amerikaner führten uns, solange unsere Identität nicht zur Zufriedenheit geklärt war, als displaced persons . Wenn es irgendeinen unter uns gab, auf den dieser Begriff in seiner bittersten Bedeutung zutraf, so war es mein Onkel Max.
    Und wenn es irgendeinen gibt, an dem ich denselben müden, verschlossenen Gesichtsausdruck wiedererkenne, so ist es meine Tante Nelly, als sie auf der Terrasse steht, eine Zigarette an der nächsten anzündet und mit schleppender Stimme zu mir sagt: Geburtstagskind .
     
    Viel ist es nicht, das ich über Nelly weiß, und sie macht nicht den Eindruck, als wolle sie mehr erzählen. Einzelhaft in Ravensbrück, Frauengefängnis, die Geburt von Cornelia in einem Entbindungsheim in Frankfurt an der Oder und mehrere Monate Krankenhaus in Potsdam berichtete sie uns wie in Stichworten. Als die Alliierten näher rückten, war auch Nelly mit ihrem Baby fortgekommen. Das Ziel sollte Schönberg sein, um zum Rest der Familie zu stoßen, doch gemeinsam mit ihrem Bewacher, einem Feldgendarmen, war sie nur bis Hof gekommen. Die Zwecklosigkeit ihrer Reise – meistzu Fuß auf verstopften Landstraßen – hatte auch dem guten Mann zunehmend gedämmert, sodass Nelly schließlich kurzerhand vorgeschlagen hatte, ihm seine Pflichterfüllung schriftlich zu bescheinigen und ihrer Wege zu gehen. Der Gendarm willigte ein, Nelly schlug sich durch nach Schloss Guttenberg, wo sie mit Cornelia das Kriegsende erlebte. Erst Anfang Juni ergab sich eine Fahrgelegenheit nach Lautlitz, und ein Wiedersehen mit ihren vier älteren Kindern nach fast einem Jahr der Trennung.
    »Schau nicht so mitfühlend«, sagt Nelly und mir verschlägt es kurz die Sprache.
    »Ich hab doch gar nichts gesagt!«, verteidige ich mich schwach. »Dein Gesicht«, bemerkt Nelly und zieht an ihrer Zigarette. »So sehe ich nun mal aus.« Ich laufe rot an. »Im Übrigen habe ich eben gar nicht an dich gedacht, sondern an Max.«
    Nelly hebt die Brauen. »Stell dir mal vor!«, lege ich nach und das Wunder geschieht. Ein Anflug echter Heiterkeit huscht über Nellys Gesicht. »Der Arme«, sagt sie eine Spur weicher. »Was wird er jetzt mit sich anfangen?«
    Nun schaue ich sie doch von der Seite an, und halte ihrem Blick stand, als sie es merkt. »Und? Was siehst du?«, will sie leicht gereizt wissen.
    »Dass du viel allein warst. Dass es dir zu laut und zu voll ist hier.«
    »Lieber Gott, Fritzi«, entfährt es ihr und sie schaut als Erste weg.
    Ich lehne mich über das Terrassengeländer. Nelly steht neben mir und raucht. Wenn sie weggehen möchte, wäre jetzt der Augenblick.
    Sie bleibt. »Ganz allein war ich nicht«, spricht sie nach einer langen Pause weiter. »Lexi hat mir Kleider und Lebensmittel gebracht, Briefe von meiner Mutter und den Kindern, Fotos von ihrem Weihnachtsfest im Heim ... verdammt schlechte allerdings für eine Ingenieurin, wirklich, es war fast nichts zu erkennen! Fotografieren konnte sie nicht. Aber wenn ich sie brauchte, oder jemanden brauchte, war sie da. Radelte abends von Gatow mit dem Fahrrad hinüber und saß selbst bei Fliegeralarm stundenlang mit mir im Dunkeln. Erzählte von euch oder ihrer Arbeit, machte Pläne. Im Rückblick kommt es mir vor, als wäre sie viel öfter bei mir gewesen, als sie tatsächlich gewesen sein kann ... es ist schwer zu erklären.«
    »Nein, überhaupt nicht«, antworte ich sofort. »Es geht mir ganz genauso.«
    »Ihr habt euch geschrieben! Ja, ich erinnere mich. Sie hat es erzählt.«
    Nelly sieht mich aufmerksam an. »Es ist so ungerecht«, platze ich heraus und erkenne kaum meine Stimme, so viel Wut liegt auf einmal darin. »Ausgerechnet Lexi, die geholfen hat, unser Leben zu retten!«
    Nelly atmet tief ein und nickt. Einmal. Zweimal. Und plötzlich ist es weder seltsam noch unbehaglich mit dieser veränderten Nelly auf der Terrasse zu stehen.
    »Fritzi, Schätzchen«, sagt sie, »wenn du etwas älter
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