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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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schon wichtigere Dinge gab. Es war der Tag, an dem ich angefangen habe, mich befreien zu lassen.
    Wie deine letzten Tage ausgesehen haben ... das versuche ich mir seither oft vorzustellen, denn immer wieder fügen Briefe und Berichte dem, was wir schon wissen, etwas Kleines oder Größeres hinzu. Nelly hattest du einen Fluchtort beschrieben, den du für uns nahe Buchenwald gefunden hattest. Und dann bei deiner Rückkehr vom Flug mit Onkel Jasper der Blick in das menschenleere Lager!
    Dass es dich selbst in höchste Gefahr bringen würde, weiter nach uns zu suchen, musst du gewusst haben. Hattest zwei Tage zuvor schon den Storch verloren bei einer Notlandung, die Ersatzmaschine ging bei einem Angriff auf Nohra zu Bruch, kaum dass du zum Stützpunkt zurückgekehrt warst, um uns wieder einmal hinterherzutelefonieren.
    Aber aufgeben? Nicht alles versucht zu haben? Es gab eine weitere Ersatzmaschine für den Weg bis Pilsen, und am dortigen Fliegerhorst stand die langsame, unbewaffnete Bücker einer Flugschule, in der es nichts mehr zu schulen gab.
    Max fuhr, nachdem er Mitte September aus der Gefangenschaft entlassen worden war, als Erstes nach Strasskirchen. Redete mit Leuten aus dem Dorf, die dich aus der abgeschossenen Maschine gezogen hatten und mit denen du sogar noch einige Worte gewechselt hattest. Bekam deine persönlichen Dinge ausgehändigt: Eine Sekretärin des Fliegerhorsts Straubing hatte sich geweigert, sie an die Gestapo abzuliefern.
    Ich hatte gehofft, Max würde länger bleiben, nachdem er dich nach Hause gebracht hatte, aber er reiste gleich weiter an den Bodensee zu seinen Dichterfreunden. »Wüsste ich nicht eine neue Schönheit und Erfüllung darin, dem Andenken der Unsrigen zu dienen«, sagte er, »müsste ich mein Leben als zerstört betrachten.« Sein Gedicht an dich hat er uns schon geschickt. Erst musste ich weinen, dann merkte ich, wie tröstlich es gleichzeitig ist. Nun arbeitet er an einem größeren Werk über die Tat seiner Brüder.
    Fey und Detalmo haben erst im November ihre Kinder gefunden. Der Jüngste konnte sich nicht mehr an sie erinnern. Nanni und die Kuhns warten und warten auf Nachricht über Joachim, aber wenn er wirklich in einem NKWD-Gefängnis ist, sieht es schlecht aus.
    Vater ist zurück aus Berlin. An seiner früheren Arbeitsstelle sucht man händeringend Mitarbeiter, aber ihn betrachtet man als Verräter. Er will es jetzt in der französischen Zone versuchen. Derweil leben wir von dem wenigen, das Mutter an der Nähmaschine verdient, denn auch Nelly und Ina stehen ohne jeden Pfennig da. Die Witwe Roland Freislers, des Richters, der nach dem Anschlag auf Hitler Hunderte zum Tode verurteilt hatte, erhält eine großzügige Pension – die Witwen der Verurteilten erhalten nichts. Geppingen und Walcheren helfen, wo sie können, und zahlen auch mein Schulgeld.
    Es muss deprimierend sein in Berlin, ein Trümmerleben. Unser Haus steht nicht mehr, wie erwartet; allerdings ist es nicht durch eine Bombe zerstört worden. Olesia muss nach MuttersVerhaftung noch monatelang unentdeckt im Keller gehaust haben. Die Nachbarn merkten wohl, dass Lebensmittel fehlten, aber verdächtigten Frau Koch und beschatteten diese heimlich, bis jemand (die Bechtolf wollte nicht sagen, wer) zufällig Olesia ertappte und unter Schlägen auf die Straße warf. In der nächsten Nacht, als es keinen Fliegerangriff gab und die Hausbewohner in ihren Wohnungen schliefen, kam sie zurück und setzte den Keller in Brand.
    Ole sia, dieses ängstliche Nervenbündel! Was aus ihr geworden ist, weiß niemand. Als die Russen in Berlin einrückten, machten sie einen Unterschied zwischen ehemaligen Kriegsgefangenen, die als Kameraden behandelt wurden, und Fremdarbeitern, die in ihren Augen Vaterlandsverrat begangen hatten, indem sie für die Deutschen arbeiteten. Ich fürchte, dass Olesia es nicht zurück nach Kiew geschafft hat.
    Bis auf Frau Koch, die in Panik aus dem zweiten Stock sprang, als das Treppenhaus brannte, sind alle in unserem Haus mit dem Leben davongekommen. Die Bechtolf haust immer noch in den Trümmern. Der kleine Jörg-Alfred, der es endlich geschafft hatte, sich von seiner Mutter loszureißen und in einem Schrank zu verstecken, soll in einem Waisenhaus sein.
    Was wäre geschehen, wenn der Anschlag geglückt wäre? Vielleicht hätte es einen Bürgerkrieg gegeben, meint Vater, denn ein großer Teil des Volkes stand ebenso fest zu Hitler, wie der andere Teil ihn ablehnte. Im Internat gibt es etliche, die
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