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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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ihr
auf dem feuchten Boden und hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Ob sie ihn
heiraten wolle, fragte er leise, und Sibylle lachte laut. »Wozu denn heiraten?«
rief sie, und weil Holger schwieg und, soweit man das im Schimmer der Kerze
erkennen konnte, ein beleidigtes Gesicht zog, fügte sie hinzu, daß das doch nur
ein blöder bürgerlicher Ritus sei. Oder? Sibylle verlieh ihrem Statement auf
den letzten Silben den Klang einer Frage, damit es nicht unbelehrbar rüberkam,
wie eine definitive Abfuhr. Neugierig war sie ja auch geworden, wie sich Holger
das denn vorstellte. Standesamtlich? In Weiß in einer Kirche? Oder was?
    Holger stand auf und seufzte. »Ich würde dich gern heiraten. Unter
den Sternen. Die sollen unsre Zeugen sein. Wir tauschen Ringe und küssen uns.
Und der älteste Baum am Ort gibt uns seinen Segen. Ohne, daß er einen Ton sagen
muß.«
    Holger hatte sie nicht mehr alle. Vielleicht war er einfach nur
betrunken. Sibylle war aber auch betrunken, und als er ihre Hände faßte und sie
bat, mit ihm in den nahen Wald zu gehen, setzten ihre
Selbstverteidigungsmechanismen aus. Sie wäre sich wie eine Spielverderberin
vorgekommen. Andererseits – war das noch ein Spiel?
    Sie folgte ihm ins Freie, er führte sie in den Wald, deutete auf
eine alte Buche, seiner Meinung nach der älteste Baum ringsumher, er bat sie,
den Stamm der Buche zu umfassen, ihre Hände in seine Hände zu legen, sie
konnten einander nicht sehen.
    »Ich will dich, Sibylle, zu meiner Frau nehmen!«
    Sibylle ahnte, daß von ihr nun ein ähnlicher Spruch erwartet wurde,
aber das Ganze schien ihr dann doch eine Spur zu abgefahren. Sie sagte
nichts. Holger hielt ihre Hände fest. Als sei ihr Schweigen bereits ein nicht
zu duldender Widerspruch. Ihr wurde mulmig. Wovor hab ich Angst? Fragte sie
sich. Das hier verpflichtet mich zu nix. Scheiß drauf.
    »Ich will dich, Holger, zu meinem Mann nehmen.«
    In diesem Moment spürte sie, wie Chrissie an ihrem rechten Arm
hinauflief und, als wolle sie ihr etwas ins Ohr flüstern, auf der Schulter
Männchen machte.
    »Der Baum sagt, daß wir fortan einander gehören«, rief Holger, zog
Sibylle zu sich, indem er ihre rechte Hand losließ und an der linken zerrte,
bis sie in seine Arme taumelte. Chrissie klammerte sich in Sibylles Nacken fest
und fiepte empört. Wahrscheinlich hatte das Tier Hunger, Sibylle kramte in
ihrer Hosentasche nach einer Erdnuß und lachte, mehr weil sie nicht wußte, wie
sie auf die ganze Zeremonie sonst reagieren sollte. Sie stupste Holger
auffordernd in die Hüfte. »Und die Ringe? Hast du denn Ringe?«
    Er dachte einen Moment nach. »Klar hab ich Ringe. Was denkst du
denn?«
    Holger holte aus seiner Hosentasche zwei Kondome, deren Reservoir er
mit einem Schweizermesser durchstach, bevor er sie über ihren und seinen
rechten Mittelfinger streifte.
    »Du hast echt ne Meise!«
    »Na und? Du hast ne Ratte! Künftig sind wir eine Familie! Mit Ratte
und Meise. Das können die Sterne bezeugen!«
    »Alles klar!«
    »Gehen wir unsre Ehe vollziehen?«
    »Wenn du das noch schaffst, bitte sehr.«
    Sie zogen sich in einen stillen Winkel des Hauses zurück. Kalter
Wind pfiff durchs Gemäuer, aber als die Frischvermählten beim Flackerlicht des
Kerzenstummels im Schlafsack lagen, rauchten und einander Wärme und liebe Worte
spendeten, war alles gut. Als hätten die zwei eine Überlebenskapsel der
besonderen Art gefunden, fern von Raum und Zeit, ein unvergleichliches Gefühl.
Der emotionalste Moment in beider Leben verlor indes einiges an Kraft und
Zauber, als sich herausstellte, daß die letzten zwei Pariser in weitem Umkreis
die aufgestochenen Eheringe an ihren Fingern waren.
    »Na und? Dann ziehst du ihn halt rechtzeitig raus!«
    »Aber das bringt Unglück. Ich bin ein Idiot. Bereust dus jetzt, mich
geheiratet zu haben?«
    »Was?«
    »Das ist doch Scheiße!« Holger klang richtig wütend. »Ich bin
gehirnamputiert. Ich hab einen Fehler gemacht!«
    »Was? Holger! Hee! Was ist denn los?« Sibylle versuchte ihren Gatten
festzuhalten, aber der hatte sich bereits aus dem Schlafsack geschwungen, um
nach seinen Klamotten zu suchen.
    »Wo willst du denn jetzt hin?«
    »Ich hab einen Fehler gemacht!« Holger stieß immer wieder jenen Satz
hervor. Dann war es plötzlich still, und Holger war weg.

10
    »Sonja? Hörst du mich?«
    Die Kleine hatte geschlafen. Jemand rüttelte sie an der Schulter,
sie wurde sofort wach. Seit einigen Tagen lebte sie nun schon fernab von Mond
und Sonne, hatte
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