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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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hinter ihr die Tür
zu verrammeln. Aber – und das wog als Einwand schwer – sie konnte im
Schlafzimmerschrank die Geldbörse gefunden haben! Schwer verdientes Geld, auf
das Vincent nicht verzichten mochte. So vergingen drei, fast vier Minuten, ohne
Entschluß, ohne Worte. Das Mädchen heulte. Er lockerte seinen Griff, aber nur
leicht, gerade so viel, um die Kontrolle zu behalten, ohne ihr weh tun zu
müssen.
    »Wer bist du?« fragte er – zugleich kam ihm die Frage albern vor,
unsinnig. Was sollte sie darauf sagen? Irgendeinen Namen?
    »Hast du was mitgehen lassen? Gibs her, dann kannst du abhaun!«
    Endlich sah ihn das Mädchen an. Nein, sie war eine junge Frau, kein
Mädchen mehr. Ihr Gesicht, soviel konnte man auch bei schwacher Beleuchtung
erkennen, strotzte vor Dreck. Es mußte Wochen her sein, seit sie sich zum
letzten Mal die Haare gewaschen hatte. Viel Schwarz lag unter jenen ihrer
Fingernägel, die nicht völlig abgekaut waren. Auch roch sie nach altem Schweiß
und feuchtem Leder.
    Unwillkürlich, angeekelt, ließ er sie los. Ohne sich darüber klar zu
sein, was seine Einschätzung der Situation verändert haben konnte, fühlte er,
daß keine echte, ernstzunehmende Gefahr von ihr ausging.
    »Ich hab nix geklaut! Nur’n paar Zigaretten …«
    Vincent rückte von ihr ab, setzte sich zwischen sie und die
Wohnungstür, im Schneidersitz, die Hände auf den Boden gestemmt, bereit,
notfalls aufzuspringen und sie abzufangen. Das Mädchen, jetzt wirkte sie doch
wieder wie ein Mädchen, weinte nicht mehr, blickte ihn unschlüssig an, in einer
Mischung aus Lethargie und Angst. Dann stierte sie auf seinen Penis, der
halbsteif pendelte, was ihm peinlich war. Er legte eine Hand auf die sich
anbahnende, ebenso unwillkommene wie schwer zu erklärende Erektion und deutete
mit der anderen nach rechts, in Richtung des schaumgekrönten Wassers.
    »Du könntest echt mal ein Bad brauchen.«
    »Hä?«
    Es klang nach einem schläfrig-verständnislosen Hä, das sich auf den
Arm genommen glaubte.
    Vincent hingegen spürte das angenehme, fast euphorische Gefühl,
einer verworrenen Sachlage langsam Herr zu werden, mit jedem Wort, das genug
Atem fand, um sich vom Gedanken in eine Äußerung zu verwandeln.
    »Ich mach dir nen Vorschlag: Du gehst da hinein, nimmst ein Bad, du
darfst auch absperren. Derweil durchsuch ich deine Sachen. Danach kannst du
dich anziehn und gehn.«
    »Ich hab nix geklaut …«, wiederholte das Mädchen müde, senkte
dabei den Kopf, als sähe sie, wenn auch widerstrebend, ein, daß ihren Worten
schwer zu trauen sei.
    »Das werd ich dann feststellen.«
    »Wenn ich ins Bad geh – holst du die Bullen?«
    »Nein. Versprochen.«
    Sie zögerte, fuhr sich mit den Fingern kreuz und quer durchs
Gesicht, als müsse sie sich erst allerhand Zweifel und schlechte Erfahrungen
aus der Haut reiben. Vincents Augen hatten sich inzwischen an die Düsternis
gewöhnt, und was er sah, begann ihm zu gefallen.
    »Guck weg!« Sie stand auf und zog sich aus, warf schnell ihre Sachen
von sich – sie trug drei Paar dicke Socken übereinander –, bis sie in Slip und BH vor ihm stand, die Arme vor der Brust gekreuzt. Ihr
Körper – Einstichstellen waren auf den ersten Blick nirgends zu entdecken – sah
abgemagert, doch nicht grundkrank aus. Ihre Haut besaß sogar gewissen Reiz,
hatte sich unter dem Dreck etwas jugendlich Gesundes bewahrt, ein wenig Glanz
auf Schultern und Oberschenkeln, und soviel Restbräune vom letzten Sommer, daß
man sie für eine Halbmulattin hätte halten können.
    »Okay so?« Sie stellte die Frage fast beiläufig, als würde sie mit
einem Arzt reden.
    Vincent nickte. Das Mädchen gehorchte und ging ins Bad. Er hörte,
wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Sollte er nun wirklich diese
schmierigen, schmutzstarrenden Klamotten durchsuchen? Er fand es plötzlich
penibel und nicht korrekt – obwohl, sie hatte schließlich bei ihm eingebrochen!
Er überlegte hin und her, ließ die Kleider unberührt liegen, lief ins
Schlafzimmer, die Geldbörse war noch da und auch voll, na also – und wenn das
Mädchen sonst etwas hatte mitgehen lassen – was konnte das wert sein? Nur auf
die Zigaretten – wenigstens auf die Hälfte der Zigaretten – würde er bestehen.
    Hastig zog Vincent eine Turnhose an, holte aus der Küche einen
Aschenbecher und setzte sich, gegenüber der Badtür, an die Wand. Lange saß er
so da. Rauchte.
    »Hast du Hunger?«
    Keine Antwort. Er wiederholte die Frage, lauter, glaubte,
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