Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
Vom Netzwerk:
zuviele verwertbare Spuren konnten sich suhlen in dem Stoff.
Die Lufttemperatur lag bei über 12 Grad Celsius. Das Mädchen würde schon nicht
gleich erfrieren. Er küßte es auf die Stirn, wischte die Stirn danach
sorgfältig mit einem Papiertaschentuch ab. Er ging und kehrte noch einmal
zurück, deckte das Kind notdürftig mit alten Zeitungen zu, die neben einer
Mülltonne lagen.
    »Machs gut, kleine Prinzessin!« Der Mann hatte Tränen in den Augen,
als er sich entfernte und, erst im Laufschritt, dann gemächlich gehend, um auch
niemandem aufzufallen, in die Monumentenstraße einbog, wo er wohnte.
    Johnny erwachte gegen halb fünf, es war, bis auf ein paar
zarte erste Fasern der Dämmerung, noch dunkel. Die Kälte hatte sich über seinen
Rausch hinweggesetzt. Ihm dröhnte der Kopf. Er ärgerte sich, weil die Euphorie,
die ihn eben noch auf ihren Flügeln getragen hatte, verflogen war. Und der
rechte Ärmel seines Hemdes roch übel nach Hundekacke. Er zog das Hemd aus, lief
zum Bassin des Wasserfalls und versuchte, den Ärmel auszuwaschen. Das machte es
nicht besser, das Wasser im Bassin roch faulig, und was da ringsum im Gebüsch
raschelte, das konnten Amseln, konnten auch Ratten sein. Er lief den Kreuzberg
hinauf, zum Denkmal für die Völkerschlacht, von wo aus er den Sonnenaufgang
betrachten wollte. Aber etliche grölende junge Männer hockten dort, um ein
kleines Feuer geschart, die rissen derbe Zoten und machten keinen
vertrauenerweckenden Eindruck. Johnny wurde neidisch. Er hätte auch gern um ein
Feuer gesessen, hätte sich mit Bier zurück in die verflüchtigte Euphorie
getrunken. Ihn quälte das Bewußtsein einer Schuld. Er würde seinen Eltern auf
irgendeine Weise mitteilen müssen, was aus ihm geworden war. Er würde sie damit
verletzen, und ihm war weder hundertprozentig klar, ob er sie ernsthaft
verletzen wollte, noch, ob sie sich ernsthaft Sorgen um ihn machten.
    Er stieg vom Kreuzberg herab, in westlicher Richtung. An einer
Wegbiegung stand ein Mann, der brabbelte etwas vor sich hin. Johnny wollte an
ihm vorbei, ohne viel Notiz von ihm zu nehmen, aber der alte Mann, es war ein
ziemlich alter Mann, dürr und gebückt, das war jetzt, in immer neuem, stärkerem
Licht zu erkennen, deutete mit seiner rechten Hand auf ihn und sagte laut:
»Aber der Gerechte kommt um, und niemand ist, der es zu Herzen nehme; und
heilige Leute werden aufgerafft, und niemand achtet darauf. Denn die Gerechten
werden weggerafft vor dem Unglück, und die richtig vor sich gewandelt haben,
kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern. Und ihr, kommt herzu, ihr Kinder
der Tagewählerin, ihr Same des Ehebrechers und der Hure!«
    Johnny kamen die dunklen Worte bekannt vor. Er hatte sie zuvor schon
gehört. Nein, gelesen. Im Buch der Bücher. Wider den ersten Impuls,
fortzulaufen, blieb er stehen. Der Mann trug eine helle Kutte, mit einem
schmalen Ledergürtel, und Sandalen, er stützte sich auf einen schmucklosen
Stock, und Johnny, am ganzen Körper zitternd, sah, daß es der Prophet Jesaja
war.
    »An wem wollt ihr nun eure Lust haben? Über wen wollt ihr nun das
Maul aufsperren und die Zunge herausrecken? Seid ihr nicht die Kinder der
Übertretung und ein falscher Same, die ihr in der Brunst zu den Götzen lauft
unter alle grünen Bäume und schlachtet die Kinder an den Bächen, unter den
Felsklippen?«
    »Entschuldigung«, murmelte Johnny. »Was hätte ich denn tun sollen?«
    Jesaja kam einen Schritt näher und schien wie ein Blinder nach
seinem Gesprächspartner zu haschen, er berührte Johnny mit zwei Fingern an der
Schulter.
    »Dein Wesen ist an den glatten Bachsteinen, die sind dein Teil;
ihnen schüttest du dein Trankopfer, da du Speisopfer opferst. Sollte ich mich
darüber trösten? Du machst dein Lager auf einem hohen, erhabenen Berg und gehst
daselbst auch hinauf, zu opfern. Und hinter die Tür und den Pfosten setzest du
dein Denkmal. Denn du wendest dich von mir und gehst hinauf und machst dein
Lager weit und verbindest dich mit ihnen; du liebst ihr Lager, wo du sie
ersiehst.«
    Gott selbst sprach aus Jesaja – und Johnny, obgleich er nichts
konkret verstand, glaubte doch zu verstehen. Irgendwie verstand er, wovon die
Rede war, und erstarrte. Ungeheuerliches ging ja vor.
    »Du ziehst mit Öl zum König und machst viel deiner Würze und sendest
deine Botschaft in die Ferne und bist erniedrigt bis zur Hölle. Du zerarbeitest
dich in der Menge deiner Wege und sprichst nicht: Ich lasse es; sondern weil du
Leben findest in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher