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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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Holger und
flüsterte, er müsse Chrissie gegessen haben. Das sei die einzige Möglichkeit. Der Rest
der Punkertruppe hatte inzwischen die Verwirrung genutzt und war an den
herumstehenden Beamten vorbei ins Haus gelaufen.
    »Er hat Chrissie gegessen! Hat sie aufgegessen!«
    Die Punks starrten den auf dem Bauch liegenden Holger an.
    Der hob den Kopf und grinste, leckte sich die Mundwinkel. Die Punks
lachten und applaudierten. Nur das Mädchen mit Namen Sibylle vergoß unentwegt
Tränen und mußte von den Beamten zurückgehalten werden, weil sie sich auf
Holger stürzen und ihn verprügeln wollte. Nabel begriff nichts mehr.
Wenigstens, daß ihm ein paar mißratene Jugendliche den Feierabend verdorben
hatten, ahnte er langsam. Er gab Anweisung, die ganze Bagage mit aufs Revier zu
nehmen und über Nacht dazubehalten. Jener Holger und jene Sibylle sollten –
gegen alle Vorschriften – in ein und derselben Ausnüchterungszelle nächtigen.
Er übernahm dafür die alleinige Verantwortung.

15
    Thomas Stern war auf dem Nachhauseweg. Er wollte am
Freitagabend mit seiner Frau eine gute Flasche Rioja trinken, Eis mit frischen
Erdbeeren und Schlagsahne essen und eine nette Schnulze auf DVD gucken. Jetzt, da die Episode Carla wohl für immer
vorbei war, konnte er ruhig mehr Zeit zu Hause verbringen. Wenigstens für
Sarah, die von ihm in letzter Zeit wenig gehabt hatte, sollte noch etwas
Positives herausspringen. Er schloß auf – und in der Wohnung ging das Licht
aus. Sonderbar.
    Die Wohnung lag in stiller Dunkelheit – aber eben noch, so schien es
ihm wenigstens, hatte irgendwo Licht gebrannt, sonst wäre ihm die Dunkelheit
doch auch, als er durch den Garten lief, aufgefallen. Oder? Er suchte den
Lichtschalter der Diele, fand ihn. Stern erstarrte.
    Etwa vier Meter vor ihm stand Sarah in einer Art Trainingsanzug und
hielt eine Waffe in der Hand. Schlimmer: Sie zielte mit der Waffe auf ihn und
grinste dazu. Instinktiv hob Stern beide Hände vors Gesicht. Sarah lachte laut,
sie hatte sich Mut angetrunken. Mehr, als unbedingt nötig gewesen wäre.
    »Was fuchtelst du mit dem Gewehr herum? Tu das weg!«
    »Das ist meins. Mit dem schieß ich. Viermal die Woche! Guck. So!«
Sie drückte ab. Weil Sarah hinter ihrer aufgesetzten Fröhlichkeit sehr nervös
war, ging der Schuß um eine Handbreit daneben, und auf dem großen
Garderobenspiegel hinter Thomas entstand mit klatschendem Geräusch ein
eidottergelber Fleck.
    Carla betrat den Club. Heute legte ein DJ auf, es wurde getanzt, zu Techno und Trance. Sie
gab ihren Mantel an der Garderobe ab, trug drunter nur ein schwarzes Negligé
und einen Tanga, dazu Highheels. Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, daß sie
haben konnte, wen immer sie wollte. Alle würden vor ihr auf die Knie gehen. Und
das würde noch ein paar Jahre so sein.
    »Und das Blut?«
    »War meins. Hab mir in’ Finger geritzt.«
    »Und wo is Chrissie jetzt?«
    »Aufm Dachboden. Haste echt geglaubt, ich hätt ne rohe Ratte
gegessen?«
    »Warum machste sonen Scheiß?«
    »Keine Ahnung. Ich hab sone Stimme im Kopf, die sagt, ich soll das
tun und dann das, dann tu ich das halt.«
    »Du wirst den Polizeieinsatz abbezahlen müssen. Wegen groben
Unfugs!«
    »Nee. Die Stimme sagt, ich muß mir wegen nix Sorgen machen. Wir
werden glücklich leben und immer jung sein und Spaß haben. Grad sagt die
Stimme, daß du mich gleich ranläßt und mir alles verzeihst und mich liebst,
schon weil wir hier ja sonst nichts Gescheites unternehmen können heut nacht.«
    »Spinnst du?« Stern machte große Augen, er begriff beim
besten Willen nicht, was da vorging. Seine Frau mußte für die versteckte Kamera
tätig sein, irgend so etwas.
    »Das hättest du nicht von mir geglaubt, nicht?« Sarah kicherte
vergnügt und setzte sich ihre Drahthaube auf. In diesem Moment klingelte es.
Thomas bemerkte, daß sein Büroanzug einen gelben Spritzer abbekommen hatte, am
linken Ärmel, und wurde wütend. Unsicher, wie er reagieren sollte, machte er einige
zapplige Bewegungen, suchte einen Lappen, eine Bürste, dann erinnerte er sich
des Klingelns. Wer klingelte um diese Uhrzeit? Das mußte das Fernsehteam der
versteckten Kamera sein, er unterdrückte seine Wut, darum bemüht, eine gute
Figur abzugeben, die auch minderwertigen Humor verstand und auf alle Zumutungen
souverän reagierte.
    Dr. Stern öffnete die Tür. Draußen stand Ümal Nurbekoglu mit einer
Pistole, und Carla sagte im selben Moment »Machs mir!« zu wem ganz anderen. So
ist das Leben, so ist
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