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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Autoren: Helmut Krausser
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deiner Hand, wirst du nicht müde.«
    »Ja, das mag so sein. Hast du mich gesucht?« Johnny wußte nicht aus
noch ein. Der Mann lachte und schmatzte mit seinen uralten Lippen, er ließ
Johnnys Schulter nicht mehr los, krallte seine alten Finger ins Leder von
Johnnys Jacke.
    »Jesaja sagt: Vor wem bist du so in Sorge und fürchtest dich also,
daß du mit Lügen umgehst und denkst an mich nicht und nimmst es nicht zu
Herzen? Meinst du, ich werde allewege schweigen, daß du mich so gar nicht
fürchtest? Ich will aber deine Gerechtigkeit anzeigen und deine Werke, daß sie
dir nichts nütze sein sollen. Wenn du rufen wirst, so laß dir deine
Götzenhaufen helfen; aber der Wind wird sie alle wegführen und wie ein Hauch
sie wegnehmen. Aber wer auf mich traut, wird das Land erben und meinen heiligen
Berg besitzen und wird sagen: Machet Bahn, machet Bahn! Räumet den Weg, hebet
die Anstöße aus dem Wege meines Volkes!«
    »Amen!« ergänzte Johnny leise und fühlte sich berührt, gesalbt.
Angesprochen auf jeden Fall.
    »Denn also spricht der Hohe und Erhabene, der ewiglich
wohnt, des Name heilig ist: Der ich in der Höhe und im Heiligtum wohne und bei
denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf daß ich erquicke den
Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen. Ich will nicht immerdar
hadern und nicht ewiglich zürnen; sondern es soll von meinem Angesicht ein
Geist wehen, und ich will Odem machen.«
    »Das ist gut, ja. Aber was soll ich nun genau tun?«
    Jesaja überlegte kurz, er kicherte, beinahe wie ein seniler
Geisteskranker. »Ich will Frucht der Lippen schaffen, die da predigen: Friede,
Friede, denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der HERR , und ich will sie heilen. Aber die Gottlosen sind
wie ein ungestümes Meer, das nicht still sein kann und dessen Wellen Kot und
Unflat auswerfen. Die Gottlosen haben nicht Frieden, spricht mein Gott. Dein
Obolus, mein Freund!«
    Der Prophet Jesaja machte eine etwas gierige Geste, und Johnny schob
einen Zehn-Euro-Schein in seine weit gespreizten Finger. Jesaja nickte, dann
wies er mit einem seiner Finger den Kreuzberg abwärts. »Seid ihr nicht die
Kinder der Übertretung und ein falscher Same, die ihr in der Brunst zu den
Götzen lauft unter alle grünen Bäume und schlachtet die Kinder an den Bächen,
unter den Felsklippen?«
    Johnny sagte danke und entfernte sich, mit sehr gemischten Gefühlen.
Inzwischen war es, dank der vielen Worte des Propheten, hell geworden, und
Johnny hatte keine Kopfschmerzen mehr, er trat ins Licht des neuen Tages, wie
in ein Königreich, das ihm zu Ehren erschaffen worden war. Ganz anders, voller
Vergebung und Mitgefühl, dachte er nun über seine Eltern. Er, der verstockte
Same, war ernsthaft Gefahr gelaufen, banal zu leben, und da, auf einer
Parkbank, lag ein Kind, das Kind der Übertretung, geschlachtet an den Bächen,
unter den Felsklippen. Johnny weinte, ergriffen vom Anblick des kleinen
Mädchens. Er nahm das Kind in seine Arme und stutzte. Das war doch Sonja. Ihm
wurde heiß und kalt. Er fühlte den Schatten der Vorsehung über sich
hinweggleiten. Sonja, Swentjas Schwester. Er hatte sie nur einmal kurz gesehen,
auf dem Spielplatz. Sie schlief, wimmerte im Schlaf – und schien doch am Leben
zu sein, nicht geschlachtet, nicht einmal angeritzt. Jesaja hatte ihn zu ihr
geführt. Für zehn Euro. Ehre sei Gott in der Höhe. Johnny strich ihr das Haar
aus der Stirn, wiegte sie auf seinen Armen, sie schlief so tief und fest. So
gerecht. Gleich würde er sie heimbringen. Was bedeutete, er mußte sie die ganze
Strecke über tragen. Aber nie in seinem ganzen Leben hatte er etwas ähnlich
Bedeutendes unternommen. Nein, nie.

11
    Um sieben Uhr morgens wurden Swentja und Mahmud von Lenes
Mutter geweckt. Die beiden lagen, eng ineinander verschlungen, auf dem Sofa und
zeigten sich über den Rausschmiß nicht eben begeistert. Lenes Mutter aber
beharrte darauf, gleich zur Arbeit zu müssen, vorher wollte sie für geordnete
Verhältnisse sorgen und die diversen Fremdkörper in ihrem Haushalt ein für
allemal loswerden.
    »Können wir nicht noch bis Mittag bleiben?« Swentja setzte ihr
gewinnendstes Lächeln auf, es half nichts.
    »Ihr habt es mir versprochen. Schon vergessen?«
    »Okay, okay!« Swentja flüsterte Mahmud ins Ohr, daß er sich bewegen,
von dieser bequemen Couch fortbewegen müsse. Er hatte dafür nur ein freches
Grinsen übrig, aber weil Lenes genervte Mutter die Couch kurzerhand umstürzte,
kullerte Mahmud auf
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