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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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nicht mehr. Zweimal täglich, morgens auf dem Weg zum Zug und mittags auf dem Nachhauseweg, lief ich an der Bank vorbei, und egal, wie eilig ich es hatte, ich schielte nach dem silbernen Schimmer, nach »SEX« und »Fick mich, Korbinian«. Es waren Zauberworte. Sie nutzten sich nicht ab. Sie wurden stärker, je öfter ich an ihnen vorbeilief und sie betrachtete. Dass siejetzt bei meiner Rückkehr noch da sind, rührt mich. Ich beschließe, meine Mutter doch nicht anzurufen und meine Tasche selbst zu tragen.
    Es weht ein warmer Wind, der aufgeknöpfte Mantel bauscht sich hinter mir, ich knöpfe ihn wieder zu. Die Farben der Häuser, Bänke, Bäume und des Rasens auf den Verkehrsinseln wirken ausgebleicht. Auf den Gehwegen hat der geschmolzene Schnee eine Lage Splitt zurückgelassen, es knirscht unter meinen Tritten. Alles ist so, wie ich es mir für den Tag meiner Rückkehr gewünscht hatte. Als sich die Straße zum Kirchplatz hin öffnet, schaue ich aus alter Gewohnheit sofort nach den Bänken der Alten: Sie sind leer, und auch sonst ist niemand da, niemand, der die würdevolle Haltung bestaunen könnte, die ich mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen meistere, was nicht leicht ist, denn die Riemen der Reisetasche schneiden in meine Hand.
    »Was hast du denn erwartet?«, fragt meine Mutter. »Dass sie den roten Teppich ausrollen? Sei doch froh, du kannst doch sowieso mit keinem von denen was anfangen.« Natürlich hat sie recht, doch es beunruhigt mich, dass die Bänke der Alten leer sind, dass sie leer sind an einem Sonntagvormittag im Frühling, dabei ist doch die Zeit nach der Messe, wenn die Leute noch vor der Kirche miteinander rumstehen und plaudern, die wichtigste Zeit für sie. Die jüngerenAlten mischen sich dann unter die Leute. Sie spielen die kauzigen, aber liebenswerten Alten, für die man sie hält und als die man sie achtlos dabeistehen lässt. Man fragt sie nach dem Ischias und Rheuma und beklagt das unstete Wetter und seinen verheerenden Einfluss auf die Gesundheit der Alten, und damit hat man sie genug beachtet und wendet sich wieder eigenen Themen, den Problemen der Jüngeren zu, den Problemen der Arbeitenden und Nachwuchs Produzierenden. Sicher, die Alten stehen dabei, aber dass sie wirklich zuhören, daran denkt niemand, und selbst wenn, was macht es schon, sie können sowieso nichts anfangen mit den Themen der Jüngeren, mit Disketten und Arbeitsspeichern, mit Rabatten, Vollpension und Laktoseintoleranz. Eine andere Zeit ist das jetzt, ist doch kein Wunder, dass sie da nicht mehr mitkommen, die Alten, und deswegen lässt man sie bei sich stehen und schickt sie nicht weg. Wenn sich die Gruppen dann nach einer halben Stunde zerstreuen, kehren die jüngeren Alten zu den Bänken zurück, wo die mittleren und alten Alten auf sie warten. Sie haben dann bis in den Nachmittag hinein viel zu besprechen.
    Bei meinen Eltern gibt es jetzt ein gemeinsames Abendbrot. Früher, als wir noch da waren, war das anders. Da hat sich jeder selbst aus dem Kühlschrank bedient und das Essen mit ins Zimmer genommen. Die angespannten Nerven des Vaters mussten sicherst entspannen, sie forderten absolute Ruhe. Nur Mutter schaffte es, sich annährungsweise lautlos zu bewegen, deswegen konnte sie in der Küche bleiben und die Mahlzeit zubereiten, während wir oben in unseren Zimmern die Cornflakespackung umklammerten und die Luft anhielten. Doch vieles hat sich geändert, seit wir ausgezogen sind, mitunter gibt es jetzt eben auch ein Abendessen, das um sieben Uhr stattfindet, meine Mutter sitzt mit am Tisch, und auch für mich ist gedeckt. Doch es fällt mir schwer, dieses gemeinsame Essen, und deshalb rede ich, während sie kauen, rede mich um Kopf und Kragen.
    Sofort bringe ich Unruhe ins Abendessen, laufe hoch und suche in unseren Zimmern den Diercke-Weltatlas . Ich zeige ihnen Timbuktu und erzähle atemlos von den Schriften auf Gazellenhaut, die wir zusammentragen und digitalisieren werden. Und dann, als es meinen Eltern schon längst zu viel ist, erkläre ich ihnen, was »digitalisieren« ist, und dass die Bibliothek von Timbuktu vielleicht so bedeutend war wie die in Alexandria, und wer weiß, auf was wir da alles stoßen werden. Sie haben die ganze Zeit nichts gesagt und schweigen auch jetzt. Ihre Gesichter sind unruhig, dahinter rasen die Gedanken auf der Suche nach irgendwas, das sie erwidern könnten. Schließlich sagt meine Mutter: »Ja, Annemut! Was du alles für Sachen machst, da kommen wir ja gar nicht
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