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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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langsam. Sie bastelte dann bedächtig an umständlichen Passivkonstruktionen, um die so beliebt gewordenen Satzanfänge »Ich denke«, »Ich glaube«, »Ich meine« zu umgehen. Ihr zuzuhören war anstrengend, selbst die Lehrer waren versucht, ihr das Wort abzuschneiden oder einen Satz für sie zu Ende zu bringen. Es wurde laut im Klassenzimmer, sie blieb ruhig, setzte sogar neu an, wenn ihr während des Sprechens eine bessere Formulierung einfiel. Sie sprach wie unter einem Glassturz, isoliert, nur für sich selbst. Unverhohlen demonstrierte sie Überlegenheit. Die anderen ließen sie in Ruhe. Sie drangsalierten sie nicht. Sie spürten, dass Johanna völlig unabhängig von den Erwartungen der erlesenen Gruppe ihrer Sympathisanten einen Plan hatte, dass ihr Verhalten, ihr Handeln undReden sich an etwas orientierten, von dem nur sie wusste und das alle anderen ausschloss.
    Mir gefiel ihre Verschlossenheit. Ich beobachtete sie, studierte ihr Repertoire an Blicken, ihr Stirnrunzeln und Augenbrauenhochziehen. Wir freundeten uns an. Wir waren ein komisches Paar; ich immer fünf Schritte voraus mit großen, fahrigen Bewegungen und redend, ständig redend. Und sie? Gelassen, schweigend, manchmal ein Grinsen, öfter ein höhnisches Lachen und sehr selten ein Lächeln, mit dem sie Züge anhielt, ein Lächeln, bei dessen Anblick den Schaffnern die Pfeife von den Lippen rutschte.
    Johanna kam morgens bei uns vorbei und holte mich ab. Sie stand im dunklen Flur, ihr Körper war nur in Umrissen zu erkennen, doch ihr Gesicht erhellt. Sie musterte meine müde Gestalt, ich richtete mich auf unter ihrem Blick, wollte gefallen. Sie grinste: die Absätze, die aufwendig geschminkten Augen, der schmale Mantel, in dem ich nur kleine Bewegungen machen konnte – so viel Eitelkeit! Sie packte meine Hand, stieß die Tür auf und zog mich hinaus in den Morgen, in die Föhnwinde, über das Kopfsteinpflaster vor der Kirche. Wir rannten. Nach einigen Minuten der Rausch, wenn das Blut in den Kopf schießt, kurz und überwältigend. Dann ließ Johanna meine Hand los und beschleunigte. Sie sprintete, ich konnte nicht mehr mithalten, fiel zurück, sie verschwandim Durchgang zu den Gleisen. Der Pfiff des Schaffners, das Piepsen, bevor die Türen schließen, Johanna hing an einer dieser Türen, verhinderte, dass sie sich schloss, der Schaffner kam angelaufen, sie grinste auch ihn an, und ehe er sie erreichte, war ich schon bei ihr, verschwitzt, sie packte meine Hand und zog mich die drei Stufen hoch ins Innere.
    Bevor ich mich mit Johanna angefreundet hatte, war mir von ein paar Mädchen aus der Parallelklasse immer ein Sitzplatz freigehalten worden. Johanna war damals allein durch die vollen Gänge gestakst, doch sie wurde nicht wie die anderen Schüler, die keinen Platz mehr gefunden hatten und deswegen im rechtsfreien Raum der Gänge und Zwischenabteile standen, mit Pausenbrot beworfen oder durch gezielte Attacken in die Kniekehlen zu Fall gebracht. Man ließ sie auch hier in Ruhe. Nur einmal hatte ein Zehntklässler ihr Mandarinenschalen hinterhergeworfen, die sie allerdings verfehlten und vor ihr auf dem Boden landeten. Johanna hatte sich langsam umgedreht, war auf den Jungen zugegangen, hatte ihn einige Sekunden lang ruhig angeblickt, die Freunde des Jungen johlten, dann hatte sie die Hand gehoben und sie ihm flach ins Gesicht geklatscht. Danach war sie ohne Hast weitergegangen, in sich gekehrt, beinahe verträumt, als würde sie im Frühling unter blühenden Bäumen spazieren. Wenige Wochen später war ich ihre Freundin geworden. Ich kämpfte michmit ihr durch die Gänge auf der Suche nach einem Zwischenabteil, in dem wir, die Hefte gegen die vibrierende Wand gedrückt, stehend unsere Hausaufgaben machten.
    Es kam nie heraus, wer Karl Rieder so zugerichtet hatte. Er hatte sich geweigert, Auskunft zu geben, und man hatte ihn dann auch nicht weiter bedrängt, denn im Grunde wollte man es auch nicht wissen, und der stotternde Karl Rieder, redete man sich heraus, war auch so schon gestraft genug, man musste ihn nicht auch noch mit Reden plagen. Mich hatte diese Gleichgültigkeit aufgeregt. »Das geht doch nicht«, hatte ich zu Johanna gesagt, »dem muss nachgegangen werden, auch wenn er das vielleicht nicht will, was ich nicht glaube. Und auch wenn, das geht doch nicht nur ihn was an, wenn einer so zugerichtet wird.«
    »Ja, und genau deswegen will man es auch nicht so genau wissen«, sagte Johanna.
    Wir hatten Karl Rieder gefunden, weit hinten auf
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