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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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Schwarzweißfotografien von Therese Neumann von Konnersreuth. Das Heiligenheft war aufwendig gestaltet. Johanna hatte aus der Bücherei Kunstgeschichtsbände entliehen und auch einige Bücher aus der Abteilung Religion, Mythen, Spirituelles und Esoterik, doch ihr mit Abstand wichtigstes Buch, Das Leben der Heiligen, besaß sie selbst. Ganze Passagen schrieb sie daraus unter die Bilder der jeweiligen Heiligen in ihr Heft. Sie hatte es immer bei sich, gab es nicht aus der Hand, so dass ich einmal selbst darin hätte herumblättern können, sondern las, wenn es ihr angebracht schien, und das war oft in Situationen, wenn es mir überhaupt nicht angebracht schien oder es mich schlicht langweilte, daraus vor. Natürlich zeigte ich ihr nicht, dass ich ihre Begeisterung für die Heiligen nicht teilte. Anfangs gestand ich es mir selbst kaum ein, denn es trieb doch einen Keil zwischen uns, wenn sie sich etwas hingab, für das ich mich nicht begeistern konnte, und in diesen Spalt konnte alles Mögliche eindringen und ihn weiter auseinandertreiben, und am besten ließ man es erst gar nicht so weit kommen. Ich glaubenicht, dass Johanna bestimmte Heilige bevorzugte, sie waren sich ohnehin alle sehr ähnlich, fand ich, was Johanna allerdings nicht störte. Die Geschichten der Heiligen, belehrte sie mich, seien immer Geschichten der Um- und Abkehr von einem mehr oder weniger gottlosen Leben. »In dem Moment, wo sie erkennen, dass sie auserwählt sind, gibt es keine Fragen mehr für sie, sie sind dann Vehikel, Medien, sie haben das Persönliche, das Eigene überwunden, und dann sind sie tatsächlich gleich. Sie wissen dann genau, wohin sie müssen, was ihr Weg ist, und haben auch keine Angst mehr. Vor nichts mehr. Die Heiligen kennen ihren Platz.«
    Wenn Leute in unserem Alter über ihren Glauben oder Religion sprachen, war es mir immer peinlich, und ich konnte das nie lange mitanhören, ohne mich zu schämen. Wenn Johanna von den Heiligen sprach, war es unangenehm, aber nie peinlich. Damals glaubte ich, dass ich Johannas Beschäftigung mit den Heiligen und ihr Reden davon deshalb nicht peinlich fand, weil sie die Heiligen eigentlich nicht nötig hatte. Sie war stolz und schön, ging aufrecht, hatte weder Sprachfehler noch Pickel und war auch ansonsten nicht gehemmt. Ihr einziger Makel war, dass sie all diese Vorzüge vielleicht etwas zu selbstverständlich hinnahm. Wenn ich jetzt über diese Gespräche nachdenke, erkenne ich, dass es nicht ihr Mangel an Bedürftigkeit war, der sie über alle Peinlichkeit undScham erhob, sondern die Haltung, mit der sie sich den Heiligen annäherte. Sie stand nicht als Gläubige vor ihnen, sie suchte nicht Trost oder Stärkung oder Orientierung, nein, sie begegnete ihnen auf Augenhöhe. Sie war eine von ihnen.

3.
    Ich komme an einem der ersten Frühlingstage zurück, einem Sonntag, einem späten Vormittag. Meine Eltern sind nicht auf den Besuch vorbereitet. Ich habe ihnen absichtlich nicht Bescheid gegeben, um zu verhindern, dass meine Mutter ein besonderes Essen kocht oder andere Dinge tut, die sie gewöhnlich nicht macht. Ich hatte genaue Vorstellungen, wie dieser Frühlingstag, an dem ich zurückkehren würde, aussehen sollte. Die Knospen der Ahornbäume hätten ihre Spitzen schon einen Spaltbreit geöffnet, im Föhnwind lägen noch die Feuchtigkeit und der Geruch des Schnees, den er über Nacht weggetaut hatte, und die Hinterlandbewohner würden, wenn sie bei ihren Sonntagsgängen aufeinandertrafen, stehenbleiben und die für den ersten Frühlingstag vorgesehenen Gespräche führen. Eine Frau würde beispielsweise sagen, wie schön es doch sei, wieder etwas Grün zu sehen, und sie würde noch andere Sachen aufzählen, die sie erfreuten, doch sie würdenicht weit kommen, denn einer der Männer würde diesen ersten Frühlingstag sofort für ein Strohfeuer erklären, über das man sich nicht zu früh freuen sollte, denn da komme sicher noch eine ganze Ladung Schnee, und überhaupt, vor den Eisheiligen brauche man sich noch gar nicht zu freuen und auch noch gar nicht ans Bauen denken, da müsse man noch jede Nacht mit Bodenfrost rechnen. Im Frühling denken die Hinterlandmänner verstärkt ans Bauen, Umbauen, Ausbauen. Sie haben Häuser und Zweithäuser und Häuser, die sie für ihre Kinder kaufen, und Schuppen – es gibt also immer etwas zu bauen. Und deshalb haben auch sie Sehnsucht nach dem Frühling, aber sie sind nicht so unbedacht und voreilig, gleich am ersten wärmeren Tag den noch kahlen
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