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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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Apfelbaum mit Osterdekoration schmücken zu wollen. Sie wissen, dass da immer noch was kommen kann.
    Im Schlafwagen erinnerte ich mich an meine Rückkehrphantasien. Ich verstehe sie nicht mehr. Ich hatte mir vorgestellt zurückzukehren, vollkommen verwandelt, eine andere, und diese andere, zu der ich dann geworden sein würde, hatte mich euphorisiert, ganze Nachmittage hatte ich auf dem Bett gelegen und an diese andere gedacht. Jetzt bin ich eine andere und zurückgekehrt und müde und hadere, ob ich nicht doch meine Mutter anrufen und bitten soll, mich vom Bahnhof abzuholen.
    Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen drei Bänke,zwei davon von Touristen in Beschlag genommen, auf die dritte setze ich mich. Einige Male, wenn wir den Zug verpasst hatten, hatte ich auch mit Johanna auf dieser Bank gesessen. Initialen und Herzen und Bandnamen und Aussagen wie »Andreas G. liebt Inge K.« oder »Marion ist ein Hure« waren beständig, und auch die zwei Schriftzüge in silberner Farbe, die mir in der sechsten Klasse das erste Mal aufgefallen waren und die mich nachhaltig beschäftigt hatten, waren zwar verblichen, aber immer noch lesbar.
    Ich hatte damals neben einem Kurgastpaar mittleren Alters auf der Bank gesessen. Sie warteten zusammen mit dem Vermieter, der sie in seinem Auto hergefahren hatte und ihnen wohl mit dem Gepäck behilflich sein wollte, auf den verspäteten Zug. Nachdem der Vermieter gesagt hatte, dass sie doch großes Glück gehabt hätten mit dem Wetter, und die Frau das bestätigte und dann eine kurze Pause entstand, bis dem Vermieter wieder etwas einfiel, das er noch sagen konnte, dass es ja so eine Sache sei mit dem Wetter hier, dass es von einem Tag auf den anderen, ja von einer Stunde auf die andere umschlagen könne, und die Frau dann sagte, ja, wie am Meer, worauf dem Vermieter beim besten Willen nichts mehr einfiel, denn mit dem Meer hatte er nun wirklich nichts am Hut, und überhaupt könnte doch auch der Mann mal was sagen, nachdem also tatsächlich einSchweigen entstanden war und sie verdruckst in der Gegend herumschauten und angespannt nach einem einfahrenden Zug horchten, fiel nun der Blick der Frau auf den silbernen Schriftzug, der zwischen den gespreizten Schenkeln ihres Mannes auf die Planken der Bank geschrieben war: »SEX« stand da und »Fick mich, Korbinian«. Die Frau lächelte, und ihr Mann lächelte auch, obwohl er nicht verstand, worüber sie lächelte. Der aufmerksame Vermieter aber verstand es, endlich wusste er, worüber er reden sollte. Solche Schmierfinken, sagte er, dass es denen zu gut gehe, deswegen kämen sie auf solche Gedanken, dass die nicht mehr mit anpacken müssten daheim, dass die nur noch herumlungerten und nicht wüssten, was sie mit sich anfangen sollten. Dass sie früher gleich nach der Schule in den Stall gemusst hätten oder aufs Feld und dass man dann froh war, wenn einem abends beim Essen nicht der Löffel aus der Hand fiel vor Müdigkeit, nein, auf solche Ideen wären sie nicht gekommen. Und dann das ganze versaute Zeug, schämen müsse man sich für diese jungen Leute, aber man sei ja auch selbst schuld, man züchte sie ja selbst so heran, stecke ihnen alles vorn und hinten rein, dass das nicht gutgehen würde, hätte man sich ja auch denken können, erklärte er. Und dann, obwohl von einem einfahrenden Zug noch nichts zu hören war, stand die Frau auf, es war zu viel, sie umfasste die Henkel einer kleinen Reisetasche: »Sie müssen nichtmit uns warten, das kann ja noch ewig dauern, bis der Zug kommt, und Sie haben ja so viel Arbeit zu Hause, wirklich, das mit dem Gepäck, das schaffen wir schon zu zweit«, und noch ehe der Vermieter, der gerade angefangen hatte, sich wohl zu fühlen, Einspruch erheben konnte, verabschiedete sie sich schon von ihm. Das Ehepaar schleppte sein Gepäck zu den Gleisen, ich blieb allein auf der Bank zurück und schob eine große Lutscherkugel, die meine Zunge blau färbte, im Mund hin und her.
    Es hatte mir gefallen, wie der Vermieter sich aufregte. Ich hatte auch bemerkt, dass er die Wörter, über die er sich aufregte, selbst nicht in den Mund nehmen konnte, das hatte mir besonders gefallen. Ich hatte eine Lust verspürt, ihm diese Wörter um die Ohren zu hauen, immer wieder, doch da war die Lutscherkugel in meinem Mund, und außerdem wusste ich ja auch nicht wirklich, was sie bedeuteten, und ihm Wörter um die Ohren zu hauen, über die ich selbst nur halb Bescheid wusste, das traute ich mich dann doch nicht. Ich vergaß diese Wörter
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