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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir
Autoren: S Jio
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überkam, als ich ihr die Hand schüttelte. »Und das ist meine Enkelin Jennifer.«
    »Ich bin Genevieve.«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich. »Wollen wir uns setzen?« Sie hatte eine große, blau-weiß gestreifte Segeltuchtasche bei sich.
    »Ja, gern«, sagte sie.
    Die Kellnerin führte uns an einen Tisch am Fenster. Ich bestellte eine Flasche Weißwein.
    Genevieve lächelte. »Ich kann es noch gar nicht glauben, dass Sie hier sind«, sagte sie kopfschüttelnd. »Sie waren für mich immer eine Art mythische Figur. Ich meine, Ihr Name stand auf der Registrierungsliste der Lazarettschwestern, die im Krieg hier waren, aber trotzdem kamen Sie mir vor wie … wie eine Figur in einem Märchen.«
    Wir schwiegen, als die Kellnerin den Wein brachte und unsere Gläser füllte. Ich trank einen Schluck und spürte, wie mich der Alkohol wärmte. »Ich nehme an, Sie kennen die Hütte, die einen knappen Kilometer von hier entfernt am Strand steht«, sagte Genevieve und schaute Jennifer an. »Es ist eine kleine Hütte. Man findet sie nur, wenn man danach sucht.«
    Ich nickte. »Ja, ich kenne sie.«
    »Komisch«, sagte Genevieve, trank einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. »Die Einheimischen wagen sich nicht in die Nähe der Hütte. Sie behaupten, es liege ein Fluch auf ihr. Sie ist mir mein Leben lang unheimlich gewesen, vor allem als Kind. Mein Bruder und ich haben die Hütte zufällig entdeckt, als wir mit unseren Eltern am Strand gepicknickt haben, aber wir haben uns nicht hineingetraut.« Sie zuckte die Schultern. »Irgendwann war dann wohl die Neugier stärker. Vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren bin ich durch ein Fenster in die Hütte gestiegen und habe mich darin umgesehen. Und ob Sie’s glauben oder nicht – eine Woche später habe ich erfahren, dass mein Mann eine Affäre und meine Mutter Brustkrebs hatte.«
    »Das tut mir leid«, sagte Jennifer und füllte unsere Gläser noch einmal.
    »Sie glauben also an den Fluch?«, fragte ich.
    Genevieve ließ den Wein in ihrem Glas kreisen. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Einerseits ja, andererseits habe ich das Gefühl, dass die Hütte auch ihr Gutes hat. Ich habe es gespürt, als ich dort war.« Sie lächelte. »Klingt merkwürdig, oder?«
    »Nein, nein, ganz und gar nicht«, entgegnete ich. »Mir geht es genauso. Ich habe viel Zeit allein in der Hütte verbracht.«
    Sie nahm einen kleinen, weißen Briefumschlag aus ihrer Tasche.
    »Hier«, sagte sie lächelnd. »Das habe ich in einer Ecke der Hütte auf dem Boden gefunden. Ich glaube, es gehört Ihnen.«
    Ich holte tief Luft, dann öffnete ich den Umschlag. Ich langte hinein und spürte etwas Hartes, Kaltes. Die blauen Edelsteine glitzerten im Sonnenlicht. Meine Brosche. Die Brosche, die Kitty mir geschenkt hatte. Mir stockte der Atem, als ich auf der Rückseite die Gravur las, die aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Meine Augen füllten sich mit Tränen, sodass ich nur noch verschwommen sehen konnte.
    »Es gibt doch bestimmt ein Dutzend Frauen auf der Insel, die Anne heißen«, sagte ich. »Wie sind Sie darauf gekommen, dass die Brosche mir gehört?«
    »Ich habe Nachforschungen angestellt«, erwiderte Genevieve lächelnd.
    »Sind Sie bei Ihren Nachforschungen zufällig auch auf den Namen Westry gestoßen?« Ich schaute Jennifer an. »Westry Green?«
    Genevieve nickte. »Ja. Ich habe ein Buch gefunden, das einmal ihm gehört hat. In der Schreibtischschublade, in der Hütte.«
    »Ein Buch?«
    »Ja«, sagte sie. »Ein Roman aus den dreißiger Jahren. Sein Name stand darin.«
    Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie sehr Westry bemüht gewesen war zu verhindern, dass unsere Namen mit der Hütte in Verbindung gebracht wurden.
    »Es hat sehr lange gedauert«, fuhr Genevieve fort, »aber ich habe ihn schließlich gefunden. Vor einigen Jahren habe ich sogar mit ihm gesprochen. Bevor ich mit dem Projekt angefangen habe, das ich in meinem Brief an Sie erwähnte. Seitdem versuche ich, ihn zu erreichen, leider vergeblich.« Sie seufzte. »Die Telefonnummer, die er mir damals gegeben hat, existiert nicht mehr, und niemand scheint zu wissen, was aus ihm geworden ist.«
    Ich senkte den Blick und faltete meine elfenbeinfarbene Serviette einmal und noch einmal.
    »Verzeihen Sie«, sagte Genevieve. »Ich wollte damit nicht andeuten, dass er …«
    »Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte Jennifer, bemüht, dem Gespräch eine sachliche Wende zu geben.
    Genevieve schaute an die Decke, als versuchte sie, sich an
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