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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir
Autoren: S Jio
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gewöhnt.« Sie wies auf die Festgesellschaft hinter der Hecke. »Deswegen konnte ich nicht mitfeiern. Tut mir leid, Anne.«
    Ich nahm ihre Hand. »Nein«, sagte ich bestimmt, »entschuldige dich nicht.« Mit dem Saum meines Kleides wischte ich eine Träne von ihrer Wange.
    »Anne«, sagte sie dann mit veränderter Stimme. »Ich muss dir etwas sagen.«
    Ich ließ ihre Hand los. »Was denn?«
    »Es wird dir nicht gefallen.«
    »Sag’s mir trotzdem«, beharrte ich und wappnete mich innerlich.
    »Ich habe eine schwerwiegende Entscheidung getrof fen – in Bezug auf meine Zukunft«, sagte sie. Sie räusperte sich. »Du beginnst ein neues Leben, und deswegen muss ich das auch tun.«
    »Kitty, wovon redest du?«
    Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Erinnerst du dich an den Pakt, den wir geschlossen haben, als wir uns für die Krankenschwesternausbildung angemeldet haben?«
    Ich nickte. »Ja. Wir haben einander geschworen, dass wir nicht so werden würden wie unsere Mütter.«
    »Genau«, sagte sie, ohne mich anzusehen. »Und dass wir ein anderes Leben führen wollen, ein sinnvolleres Leben.«
    Ich runzelte die Stirn. »Kitty, wenn du damit andeuten willst, dass ich, indem ich Gerard heirate …«
    »Nein«, unterbrach sie mich hastig. »Das meine ich überhaupt nicht. Aber ich habe mir gesagt, dass ich etwas aus meinem Leben machen kann – dass ich mit der Ausbildung, die ich habe, etwas Sinnvolles tun kann. Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach, seit wir die ersten Gerüchte vom Krieg gehört haben, aber heute Abend, Anne, heute Abend ist mir klar geworden, was ich tun will.«
    Ich ballte die Hände.
    »Ich gehe weg«, sagte sie. »Weit weg – in den Südpazifik. Ich melde mich als Lazarettschwester zum Army Nurse Corps. Ich war heute in der Stadt bei der Registrierungsstelle für Freiwillige. Die brauchen ausgebildete Krankenschwestern. Die suchen verzweifelt Krankenschwestern, Anne! Das könnte endlich eine Chance für mich sein, etwas Sinnvolles zu tun.«
    Mir ging das Herz über vor Rührung. Ich dachte an all das, was Norah in ihren Briefen erzählte – von den feuchtwarmen Nächten, in denen die Sterne am Himmel zum Greifen nahe schienen, von den Inseln, die so schön und zugleich so geheimnisvoll waren, von der Angst vor Tod und Zerstörung, die überall lauerte. Von den Männern. Ich hatte heimlich davon geträumt, mir vorgestellt, wie es sein könnte, aber ich hatte nicht geahnt, dass Kitty in aller Stille bereits Pläne gemacht hatte.
    Ich trat so heftig nach einem Kieselstein, dass er quer über die Straße flog. »Bist du fest entschlossen?«
    »Ja«, sagte Kitty leise.
    Ich seufzte.
    »Hör zu«, fuhr Kitty fort. »Du heiratest. Alle heiraten oder gehen fort, um zu studieren. Ich habe keine Lust, hier rumzusitzen und tatenlos zuzusehen, wie sich alles verändert. Ich möchte an der Veränderung mitwirken.«
    Ja, für uns beide würde sich vieles ändern, ob wir daran mitwirkten oder nicht. Und je näher der Zeitpunkt rückte, umso schmerzlicher kam es mir zu Bewusstsein.
    »Meine Mutter ist natürlich entsetzt«, fuhr Kitty fort, »dass ich auf eine unzivilisierte Insel will, wo Wilde leben, dass ich mich unter Soldaten mischen will – aber das ist mir egal. Es interessiert mich nicht, was irgendwer denkt, außer« – sie zögerte – »was du denkst.«
    Ich konnte mir Kitty auch nicht auf einer Insel im Südpazifik vorstellen, aber nicht wegen der »Wilden« oder der Soldaten. Nein, ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass Kitty ans andere Ende der Welt aufbrach – ohne mich.
    »Ich stehe übrigens in Briefkontakt mit Norah«, gestand ich ihr.
    Kitty wirkte gekränkt, doch dann leuchteten ihre Augen auf. »Ist sie nicht im Südpazifik?«
    »Ja«, sagte ich. »Sie drängt die ganze Zeit, dass ich mich ebenfalls zum Dienst melden soll.«
    Kitty grinste. »Tja, da hat sie ihre Energie an die Falsche vergeudet.«
    »Vielleicht auch nicht«, erwiderte ich leise.
    Ich dachte an die Hochzeit, die in wenigen Wochen stattfinden sollte. Ich sah alle Einzelheiten vor meinem geistigen Auge wie die Bilder einer Dia-Schau. Mein Kleid aus französischer Seide. Das blaue Strumpfband. Die fünfstöckige Hochzeitstorte. Spitzendeckchen. Sträuße für die Brautjungfern. Weiße Pfingstrosen und lavendelfarbene Rosen. Ich schüttelte mich. Wie sollte ich heiraten, wenn Kitty nicht dabei war?
    Ich richtete mich auf. »Ich komme mit«, sagte ich zu Kitty.
    Kitty strahlte. »Anne! Nein, das meinst
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