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Eine zweite Chance

Eine zweite Chance

Titel: Eine zweite Chance
Autoren: Karin Alvtegen
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Angst einfach verschwunden. In den Ohren, die früher in den Nächten gehorcht hatten, steckten jetzt Ohrstöpsel, das Summen des Heizlüfters wurde ferngehalten, aber auch die Geräusche, auf die sie früher immer als Zeichen für einen fremden Eindringling gelauscht hatte. Mittlerweile schlief sie unbekümmert darum, was auch immer in dem Haus geschah. Es war sowieso alles zerstört, ein paar Einbrecher mehr oder weniger würden kaum einen Unterschied machen.
    Sie zog ihren Flanellpyjama an und kroch rasch unter die Daunendecken. Die Ohrstöpsel lagen auf dem Nachttisch, und während sie sorgfältig die gelbe Schaumstoffmasse zusammendrückte, machte sie es sich bequem. Denn gerade wenn die Geräusche verebbten, kurz vor dem Einschlafen, war das Risiko, überwältigt zu werden, am größten. Nachts war die Haut am dünnsten. Rasch einzuschlafen war ein Muss. Manchmal, wenn es lang gedauert hatte, hatte sie sich gefährlich nahe an die Grenze verirrt, die sie unter allen Umständen aufrechterhalten musste. Sie hatte etwas erahnt, was sie nicht überleben würde, wenn es überschritten wurde. Eine Verzweiflung, gegen die sie unbedingt ankämpfen musste, bis sie sich von selbst wieder etwas gelegt hatte. Bis sie es nach und nach geschafft hatte, sich auf den haltlosen Sturz vorzubereiten, der sie so unerwartet überwältigen wollte, hinunter in ein Loch, das tiefer war als alles, was sie bisher gekannt hatte, in dem sie jeder Orientierung beraubt sein würde.
    Die Scham über das Versagen.
    Über das gigantische Versagen.
    Manchmal konnte sie flüchtig die Fünfundzwanzigjährige sehen, die sie einmal gewesen war. So, wie Martin sie kennengelernt hatte, mit einem ganzen Sack voll seelischem Müll, mit dem sie in die Welt hinausgeschickt worden war. In ihrer Kindheit hatte sie gelernt, dass alles unberechenbar war, ihr Leben hatte immer nur um die suchtkranke Mutter gekreist. Und sie hatte gelernt, wie sie diese Tatsache vor der Öffentlichkeit verbergen konnte. Einen Vater hatte es nie gegeben, er war schon lange verschwunden, bevor sie eine Chance gehabt hatte, Erinnerungen an ihn zu haben.
    Sie wusste nicht mehr, wann sie zum ersten Mal das Wort Löwenzahnkind gehört hatte, aber sie hatte früh herausgefunden, dass sie eins war, zäh wie Löwenzahn. Vielleicht hatte ein Lehrer in der Schule es gesagt, nachdem er ihre Lügen durchschaut und verstanden hatte, wie es bei ihr zu Hause stand. Während der Schuljahre hatten die Lehrer sich darüber gewundert, dass sie ihre Aufgaben so gut bewältigte, sie war fast immer unter den Besseren. Dass es tatsächlich eine Lebensnotwendigkeit war, davon ahnten sie nichts. Tüchtig und folgsam zu sein war eine Art, ihren Platz zu behaupten. Welchen, wusste sie nicht, nur dass es gute Leistungen waren, durch die sie ihr Überleben sicherte.
    Die Leute in ihrer Wohnung kamen und gingen. Wachsamkeit war notwendig. Man konnte unmöglich wissen, auf wen man sich verlassen konnte, ebenso zu wem man gehen konnte, um Schutz zu finden. Wie alle Kinder hatte sie ihre Mutter geliebt und sehnte sich nach den Gelegenheiten, bei denen sie ihre Liebe zeigte. Helena und ihre Schwester lernten beide, wann die Chance dazu am größten war. Es kam selten vor, wenn sie nüchtern war, wenn die klare Sicht auf ihre eigene Unfähigkeit ihre Mutter dazu brachte, sich in ihrer Scham abzukapseln. Auch nicht, wenn sie trank, wenn klebrige Liebesbezeugungen dicht herabregneten, aber nicht zählten, weil sie von einer Fremden kamen. Nein, aber in der Woche danach, wenn sie jämmerlich und reuevoll versprach, dass sich alles ändern würde, wenn sie ihr nur verziehen, dann stiegen ihre Chancen. Verziehen wurde ihr immer, aber die Veränderung blieb aus. Ihre gesamte Kindheit lief darauf hinaus zu versuchen, das allzu Abweichende zu verhindern, zu beschönigen und in der Verzweiflung das zu normalisieren, was zu wehtat.
    Mit diesen Lektionen hatte sie sich ins Leben hinausbegeben. Ihre Freunde wählte sie entsprechend aus. Sie fühlte sich zu unzuverlässigen, unglücklichen Männern hingezogen, fand sie spannend und geheimnisvoll. Die Herausforderung bestand darin, ihre Liebe zu gewinnen, ihnen Verständnis und Trost zu spenden und zu versuchen, ihnen zu helfen. Die Beziehung war auf den Bedingungen des anderen aufgebaut, und wollte sie ihre Aufmerksamkeit gewinnen, musste sie sich anpassen. Sie hatte gelernt, dass Liebe so funktionierte. Die egozentrische Launenhaftigkeit der Männer passte genau und
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