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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
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Vergangenheit, über die sie nicht hinwegkam, die vollkommen belanglose Geschichte, die sie aus voller Überzeugung für all ihre größeren Niederlagen mitverantwortlich machte: warum sie den geheiratet hatte, den sie geheiratet hatte. Warum sie als Künstlerin nicht mehr Erfolg hatte. Er hatte seine eigene erlebt, vor vielen Jahren: 1958, ein bedeckter Tag über der Bucht von Narragansett, mit seinem Vater in einem kleinen Boot. Ein Angelausflug. Sein Vater hatte ihm gestanden, dass er in eine halb-portugiesische Frau unten in Westerly verliebt war – von der seine Mutter und Schwester nie gehört hatten. Die Geschichte hing jahrelang in seinem Kopf fest, obwohl er sie wieder vergessen hatte, bis vorhin.
    Trotzdem waren diese Dinge unwichtig. Man stellte sich die Vergangenheit vor, man erinnerte sich nicht. Man konnte sie sich einfach etwas anders vorstellen. Das würde er ihr sagen, und außerdem, dass sie eine wunderbare Frau war. Und dass sonst nichts zählte.
    »Ist das okay?«, sagte Jena und zog ihre Pulloverärmel hoch bis über ihre schmalen Ellbogen. Ihr dunkles Haar glänzte im flackernden Kerzenschein. Das Zimmer spiegelte sich schief in dem hohen Fenster. »Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dich zu langweilen.«
    »Nein«, sagte Wales. »Überhaupt nicht.«
    »Okay, also mein Vater«, erzählte sie sofort weiter. »Er konnte nicht in ein Restaurant gehen und nach einem Tisch fragen. Er stand einfach da. Dann zentimeterweise vorwärts, in der Erwartung, dass, wer immer dort was zu sagen hatte, seine Wünsche schon verstehen würde – als könnte seine Anwesenheit dort nur eines bedeuten, nämlich das, was er wünschte.« Jena schüttelte den Kopf, hauchte das Glas an und schien kurz über den Dunst nachzudenken, den ihr Atem hinterließ. »So merkwürdig«, sagte sie. »Sie waren wie Einwanderer. Bloß dass sie keine waren. Wahrscheinlich ist das eine Form der Arroganz.«
    »Ist das alles?«, fragte Wales.
    »Ja.« Sie schaute ihn an und blinzelte.
    »Es kommt mir nicht besonders wichtig vor«, sagte er.
    »Es ist nur der Grund, weshalb sie keinen Erfolg im Leben hatten«, sagte Jena ruhig. »Sonst nichts.«
    »Aber bedeutet dir das sehr viel?« Er war überrascht, dass sie darüber hatte reden wollen. Es wirkte so intim und so belanglos.
    »Sie sind meine Eltern«, sagte sie.
    »Mögen sie dich?«
    »Natürlich. Ich bin reich. Sie behandeln mich wie eine Königin. Deshalb bin ich Malerin geworden«, sagte Jena. »Sie haben ihre Pflicht, die Welt verantwortungsvoll zu regeln, nicht erfüllt. Deshalb muss ich Dinge mit meinem Malen ausdrücken – weil sie es nicht getan haben.«
    Vielleicht lag es an der vielen Zeit, die man mit Kindern verbrachte, dachte er, und aus Nichts etwas machte, vielleicht lag es daran, dass man am Ende alles nur noch verzerrt wahrnahm. »Aber stört es dich?«, fragte er.
    »Nein«, sagte Jena. »Ich würde sie auch gern in einem Roman verarbeiten. Glaubst du, sie wären glaubwürdig in einem Roman?« Sie hoffte, einen Roman zu schreiben. Jedes Mittel, sich auszudrücken, interessierte sie.
    »Ganz sicher«, sagte er. Und er dachte: Wie schwierig konnte es schon sein, einen Roman zu schreiben? Das taten so viele. Er mochte Romane, denn sie beschäftigten sich mit dem Unvergleichbaren, mit den Dingen, die sich anders nicht ausdrücken ließen. Was er tat, war so sehr das Gegenteil. Er beschäftigte sich mit Dingen, die geschahen. Mit dem verpackten Reichstag. Der Beerdigung einer falschen Prinzessin. Verfehlte Eigentlichkeiten, und seine Reaktionen sollten das wieder gutmachen.
    Jemand klopfte laut an die Tür am Ende des kurzen dunklen Flurs und öffnete sie dann. Er hatte vergessen abzuschließen.
    »Das Zimmermädchen?«, sagte die helle Stimme einer jungen Frau. Ein gelber Lichtstreifen drang vom Korridor ins Zimmer.
    »Nein!«, sagte Jena laut, ihr Gesicht, so nah an seinem, sah verblüfft und schlagartig unhübsch aus. Ihr Mund konnte erstaunlich grausam wirken, obwohl sie gar nicht besonders grausam war, zuminest hatte er bislang davon nichts bemerkt. » Kein Zimmermädchen.«
    »Das Zimmermädchen?«, wiederholte die Stimme fröhlich. »Würden Sie gern Ihr Bett aufgeschlagen sein?«
    »Nein!«, rief Jena. » Nicht . Nicht Bett aufgeschlagen.«
    »Okay. Danke schön.« Die Tür klickte zu.
    Jena saß einen Moment lang auf ihrem Sessel im Kerzenschein und wirkte sehr verärgert. Ihre Hände waren ineinander gepresst, ihr Mund bildete einen schmalen Strich. Er
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