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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
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Kondomautomat neben den Urinalen stand, die unablässig benutzt wurden. Und irgendwie – wahrscheinlich aus Nervosität, aus Vorfreude – irgendwie hatte er sein Fünfmarkstück fallen lassen. Und weil er damals tatsächlich getrunken hatte und die Kondome kaufen wollte, unbedingt kaufen wollte, war er neben einem gerade pinkelnden Mann in die Hocke gegangen und hatte die störrische Münze von den Fliesen zwischen den Füßen des breitbeinig dastehenden Fremden aufgeklaubt. Der Mann lächelte ihn unbekümmert an, als würde so etwas ständig passieren. »Offenbar hab ich heute die Fallsucht«, sagte Wales auf Englisch und befingerte die harte Silbermünze, die kein bisschen feucht geworden war. Und dann fing er an zu lachen, sich laut auszuschütten vor Lachen. Auf der gesamten Herrentoilette konnte unmöglich jemand das englische Wort für »Fallsucht« kennen. Das war urkomisch. Ein typisches Sprachproblem.
    » Viel Glück, mein Freund «, sagte der Mann auf Deutsch, zog seinen Reißverschluss hoch und schaute sich zufrieden um.
    »Ja, ja. Der beste Glück. Natürlich «, erwiderte Wales und warf die Münze in den Automaten.
    »Jetzt werden es alle erfahren«, sagte seine Freundin, als sie aus dem Lokal in die warme Sommernacht auf der Kantstraße traten. Sie lachte darüber. Sie kannte alle Leute dort.
    »Das juckt doch bestimmt keinen«, sagte Wales.
    »Nee, natürlich nicht. Kein Stück. Das ist alles vollkommen albern.«
    Jena hatte ihm den Schlüssel gegeben, eine knackfrische weiße Karte, die, wenn man sie in einen Schlitz einführte, ein winziges grünes Licht auslöste, das wiederum ein leises Klicken hervorrief, worauf sich die Tür öffnete. Zimmer 839.
    »Oh, ich hab mich so nach dir gesehnt«, sagte Jena warm, mit tieferer Stimme als sonst. Er konnte sie nicht richtig erkennen. Im Zimmer war es dunkel, bis auf eine Kerze, die Jena neben ihre Staffelei gestellt hatte, in den Schatten beim Fenster. Die Suite war lang und L-förmig und endete mit einem kleinen Podest vor den hohen Fenstern, die einen Ausblick auf den Drive boten. Der begehrte Nordblick. Der teure Blick. Das Bett stand am anderen Ende, wo kein Licht war, nur der Radiowecker, der 6:05 anzeigte. Ein gutes, geräumiges amerikanisches Zimmer, dachte Wales. So viel angenehmer als Europa. Man hätte ein ganzes Leben in so einem Zimmer verbringen können, und es wäre ein hervorragendes Leben gewesen.
    Jena saß in einem der beiden Lehnsessel, die sie an die Fenster gestellt hatte. Sie hatte die Autos unten auf dem Drive beobachtet. Sie streckte ihren Arm nach hinten, um seine Hand zu ergreifen. Sie war unwiderstehlich. Attraktiver als irgendwer sonst. »Bist du nicht zu spät?«, sagte sie. »Du fühlst dich viel zu spät an.«
    »Zu viel Verkehr«, sagte Wales.
    Sie wandte ihm den Kopf zu. Er beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, und roch ihren schwachen Zitrusatem.
    Jena hatte die Heizung hochgedreht. Ihr war immer kalt. Sie war zu dünn, dachte er, dünner, als sie angezogen aussah – eine kleine dunkelhaarige Frau mit dünnen Armen, nicht gerade hübsch in jedem Licht, aber hübsch – ihr Gesicht etwas spitz, ihre weichen lächelnden Lippen etwas zu schmal. Und doch war da so viel Reiz – eine Anmutung von Verwegenheit an ihr. Sie war geistreich, unvorhersehbar, dachte fast die ganze Zeit an sich, lachte an den falschen Stellen. Sie war reich und verheiratet und hatte Kinder, und so hatte sie vielleicht, dachte Wales, wenig Erfahrungen mit der Welt gemacht, nicht genug, um zu wissen, was man besser unterließ, und daher war sie nur sie selbst – eine Eigenschaft, die ebenfalls großen Reiz für ihn hatte.
    Wales war eingeladen worden, um einen Vortrag zu halten, der seinen Aufenthalt an der Universität rechtfertigte. Und er hatte beschlossen, etwas über den Tod von Prinzessin Diana als Ereignis in der englischen Presse zu machen. Unter dem Titel »Ein Fall von verfehlter Eigentlichkeit«. So etwas, sagte er, war am einfachsten für den Berichterstatter: man erfand die Emotionen einfach, erfand ihre Abfolge, erfand, was wichtig war. Das war üblich in England. Er hatte Henry James zitiert: »Schreiben erzeugt Wichtigkeit.« Das war nicht ganz dasselbe wie Journalismus, gab er zu.
    Jena hatte den Vortrag »als eine Ortsansässige« besucht, sie war von ihrem Vorort seeaufwärts in die Stadt gefahren. Nachher hatte sie ihn auf ein Glas eingeladen. In der Bar redeten sie lange darüber, dass Amerika die Welt aus dem Griff
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