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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
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den Autos entgegen, als erwarte sie, dass sie anhielten, wenn sie ihre Fahrspur betrat. Eines dieser Autos, ein dunkler Van, der einem kleinen Raumschiff ähnelte (und der, dachte Wales, viel zu schnell fuhr, schneller als vernünftig jedenfalls, bei diesem Wetter), eines dieser zu schnell fahrenden Autos traf die Frau mit voller Wucht, prallte direkt in ihre Seite, als würde sie von einem Boot gerammt, kein Gedanke an Bremsen, und dadurch wurde sie nicht etwa in die Luft oder unter die Räder oder auf die nichtexistente Motorhaube geschleudert, sondern flog zur Seite und auf die Straße – und in einer Sekunde verwandelte sich eine alte, junge, womöglich betrunkene, womöglich nüchterne Frau in einem grauen Herrenmantel in eine Ansammlung ausgewählter Überreste auf dem gefrorenen Asphalt.
    Tot, dachte Wales – keine anderthalb Meter von der Stelle, an der er und seine Spur nun flott vorbeizufahren begannen, da die Ampel auf Grün gesprungen war und von weiter hinten Hupen einsetzte. In seinem Seitenspiegel sah er den reglosen Körper der Frau auf der Straße (da war er schon einen halben Block vom Schauplatz entfernt). Die Straße war in beiden Richtungen verstopft, immer mehr Hupen blökten. Er sah, dass der Van, mit leuchtend roten Schlusslichtern, stehen geblieben war, eine Gestalt stürmte auf die Straße und fuchtelte wie wild herum. Menschen rannten von der Bushaltestelle herbei, aus den Wohnhäusern. Auf dieser Seite brach der Verkehr völlig zusammen.
    Er dachte daran stehen zu bleiben, aber das würde auch keinem helfen, dachte Wales, wieder einen halben Block weiter. Eine Ansammlung undeutlich erkennbarer Menschen stand auf der Fahrbahn und starrte zu Boden. Er konnte die Frau nicht sehen. Aber niemand kniete sich hin, um ihr zu helfen – das war ein sicheres Zeichen. Sein Herz schlug plötzlich rasend schnell. Kalter Schweiß stieg ihm in den Nacken, in dem warmen Auto. Mit einem Mal zitterte er panisch. Es ist immer schlimm zu sterben, wenn man es nicht will . Das war das Motto eines Mannes namens Peter Swayzee gewesen, den er in Spanien kennen gelernt hatte – ein Fotograf, ein dummer Mensch, mittlerweile gestorben, zerschossen, als er über ein Scharmützel in Ostafrika berichtete, an einem Ort, wo Journalisten darauf zählten, beschützt zu werden. Er selbst hatte so etwas nie gemacht – über einen Krieg oder ein Scharmützel oder einen Schusswechsel an der Grenze oder überhaupt eine Schießerei berichtet. Er hatte kein Bedürfnis danach. Es war leichtsinnig. Er zog die Dinge vor, die nicht Krieg waren. Kultur. Und er war in Chicago jetzt.
    Beim Abbiegen nach Süden auf den Outer Drive am See entlang ging Wales noch einmal in Gedanken durch, was an dem Tod, den er gerade mit angesehen hatte, bemerkenswert erschien. Irgendetwas in ihm musste sich offenbar auflösen, er brauchte das Gefühl einer Erleichterung. Es war immer wichtig, seine eigenen Reaktionen zu katalogisieren.
    Zuallererst: dass sie tot war; wie sicher er sich dessen war; wie nichts Geringeres denkbar schien. Das hatte nichts mit Moral zu tun. Ihr wurde von anderen geholfen, falls sie etwa doch nicht tot war. Er hatte Leuten früher auch schon geholfen – einmal, in der U-Bahn in Berlin, als die Kurden im Berufsverkehr Plastiksprengstoff gezündet hatten. Man konnte vor lauter Rauch in dem Bahnhof überhaupt nichts sehen, und er brachte Leute nach draußen, führte sie an der Hand nach oben auf die sonnige Straße.
    Sodann natürlich – und vielleicht hatte das sehr wohl etwas mit Moral zu tun: Die Frau hatte ihn berührt, als er sie zum ersten Mal sah, als sie in den Schnee fiel, fast sanft, dann aufstand und sich berappelte, es schaffte, ihre Hand ordentlich auf den Kopf zu legen. Die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Da hatte sie mitten in ihrem Leben gestanden, es absolut im Griff gehabt, selbst darüber erstaunt. Und dann – vor seinen Augen – drei Schritte, vielleicht vier, und alles war vorbei. Im Geist nahm er das auseinander: zuerst, als wäre keines der Ereignisse unvermeidlich gewesen. Und dann, als wäre alles unvermeidlich gewesen und hätte sich stetig weiterentwickelt. In seinem Arbeitsfeld konnte keiner solche Überlegungen gebrauchen. In seinem Arbeitsfeld war das Eigentliche alles, das Tatsächliche.
    Der See lag zur Linken, dunkel wie Petroleum und unsichtbar jenseits der grellen Fahrspuren des nordwärts rauschenden Pendlerverkehrs. Freitagabend. Weiter vor ihm beleuchtete das Stadtzentrum die tief
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