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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
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wusste nicht mehr, warum sie das gesagt hatte oder wann. Dann fiel ihm gestern Nacht ein, als er aufgewacht war, wie Frances sich auf Händen und Knien über ihn beugte und im Dunkeln sein Gesicht anstarrte. Er roch ihren Mundgeruch und spürte ihr Keuchen, wie von einem Tier. Er glaubte, sie würde gleich etwas sagen, befürchtete schlimmste Attacken – gegen ihn –, Dinge über ihn, die er nie vergessen könnte. Aber sie sagte nichts, starrte einfach nur, als könnten ihre offenen Augen nicht mehr sehen. Nach einer Weile legte sie sich wieder auf ihre Seite und sagte: »Ich kenne dich nicht, oder? Ich erinnere mich nicht an dich.« Und er sagte: »Nein, du kennst mich nicht. Wir sind einander nie vorgestellt worden. Aber alles ist in Ordnung.« Darauf drehte sie ihm den Rücken zu und schlief ein. Am Morgen hatte sie sich an so gut wie gar nichts erinnert. Er hatte sie nicht erinnern wollen. Das hatte er als Freundlichkeit angesehen.
    Was man tat, veränderte die Dinge, dachte er, während der PS -starke Streifenwagen weiterraste. Selbst sein Blick vom Berg herunter war jetzt durch die Ereignisse verändert; alles sah jetzt weniger schön aus. Er dachte an seinen Job – dass er ihn verlieren würde. Man würde ihm anbieten zu kündigen, aber unmissverständlich: Sex mit einer Kollegin, ein gewaltsamer Tod, ein heimlicher Ausflug während der Arbeitszeit, die Missachtung wichtigerer Prioritäten – nein, das klappte bestimmt nicht, kein Zweifel. Er dachte an Mary – dass er ihr nichts von seinen wahren Gefühlen erzählen, die meisten Einzelheiten und die Vorgeschichte aussparen und versuchen würde, langsam Gras über die Sache wachsen zu lassen, in der Hoffnung, dass das ausreichte. Er würde versuchen, all das durch bessere Dinge zu ersetzen. Und bei seinen Eltern genauso. Sie würden alle etwas erwachsener werden müssen.
    Er hatte Frances nicht noch einmal gesehen, seit er sie unter der kleinen Zeder entdeckt hatte, wie sie zu ihm emporstarrte. Es schockierte ihn – diese Erinnerung, und sie dann nicht mehr gesehen zu haben. Das alles sorgte dafür, dass er sich allein und ganz besonders ungerecht behandelt fühlte, als nähme er ihr ihre Abwesenheit eher übel, als sie zu bedauern. Man konnte sich natürlich freuen, dass sie den Grand Canyon gesehen hatte, bevor er von Häusern und Einkaufszentren und Autobahnen und gläsernen Bürogebäuden verschandelt wurde. Obwohl sie versucht hatte, ihm, Howard, ein Gefühl der Unzulänglichkeit zu geben, als wären die Dinge, an denen ihm lag, belanglos im Vergleich zu den spirituellen Dingen, für die sie sich so begeistert und jetzt ihr Leben hingegeben hatte – die heilende Energie.
    Aber das waren die belanglosen Dinge. Als er durch die Windschutzscheibe auf die blasse graue Abendwüste spähte, ging ihm auf, dass das meiste, was er wusste, belanglos war; und dass er jetzt nie mehr empfinden würde, was er an diesem Tag – unter besseren Umständen – hätte empfinden können. Egal was ihm sogar hätte gefallen können, wenn er sich nach bestem Wissen und Gewissen auf diese Erfahrung eingelassen hätte – es war ihm nun genommen. Das Leben ringsum schien zu verschwinden, so schnell, wie dieser Wagen an der Flanke des Berges hinunter in die Dunkelheit raste. Es schien wie ausgelöscht. Es tat ihm furchtbar Leid. Und er hatte Angst, große Angst, obwohl diese Empfindung ihn nicht so scharf und unerwartet überkam, wie er immer angenommen hatte.

Über den Autor
    Richard Ford
    Richard Ford wurde 1944 in Jackson, Mississippi, geboren und lebt heute in Maine. Er hat sieben Romane sowie Novellen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. 1996 erhielt er für Unabhängigkeitstag den Pulitzer Prize.
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