Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
Vom Netzwerk:
richtige Stelle zum Posieren fand.
    Überall standen handgeschnitzte Holzschilder mit frischen weißen Lettern, »Bitte klettern Sie nicht auf oder hinter die Mauer. Das ist gefährlich. Es kommt häufig zu Unfällen.« Sie konnte diese Schilder sehen. Sie konnte lesen, dachte er. Er wollte nicht noch einen Streit anfangen.
    »Ich glaube, ich muss noch ein paar mehr Regeln übertreten«, sagte Frances oben auf der Mauer und huschte auf der Außenseite daran hinunter, bis ihre rosa Schuhe die Erde berührten. Er schaute hinüber, auf sie. Kleine Krüppelkiefern wuchsen aus dem dürren Boden, ihre Wurzeln brachen hervor. Da waren weitere Fußabdrücke zu sehen. Wo sie sich jetzt befand, waren andere Leute herumgelaufen. Eine kleine gelbe Filmschachtel lag halb begraben da. Eine rot-weiße Zigarettenschachtel war zusammengeknüllt und hinübergeworfen worden. »Ich möchte nur ein, zwei Schritte weiter«, sagte Frances, schaute von unten zu ihm hoch, mit weit aufgerissenen Augen, lächelnd. Sie war glücklich, dabei hatte sie sich ihre weißen Shorts dreckig gemacht und die rosa Schuhe auch.
    Er schlang sich den Riemen der Kamera um den Hals, um sie nicht fallen zu lassen.
    »Ich will nur mich und den Canyon auf dem Bild. Sonst nichts. Guck jetzt mal durch. Schau mal, was du siehst, wenn du mich siehst.« Sie strahlte, tastete sich rückwärts durch die kleinen Krüppelkiefern und blinzelte hoch in die Morgensonne. »Ist das okay?«
    »Sei vorsichtig«, sagte Howard, setzte das kleine Gummikissen an sein Auge und spürte die warme Kamera an der Nase.
    »Okay?«, sagte sie. Er hatte sie noch nicht im Sucher. »Das wird toll. Dieser Canyon ist eigentlich ganz jung, er sieht nur alt aus. Oha.«
    Er richtete den kleinen schwarzen Rahmen des Suchers auf sie, das heißt auf die Stelle, wo er sie erwartet hatte, direkt unter ihm – wo sie gewesen war. Aber jetzt nicht mehr war. Durch die Linse schaute er nach links und rechts, dann nach oben und nach unten. Er ließ die Kamera sinken, um herauszufinden, wohin sie gegangen war. »Wo bist du hin?«, sagte er. Er lächelte. Aber sie war weg. Die Stelle, die er mit dem Sucher eingerahmt hatte, war da, erkennbar an einem größeren, herausragenden Stück Krüppelkiefer – piñon , fiel ihm von irgendwoher ein. Aber Frances nahm diese Stelle nicht ein. Er sah nur sonnige Landschaft und weit weg die braune und rote und lila Wand der gegenüberliegenden Canyonflanke und die flache Ebene dahinter. Eine große Entfernung. Eine unmögliche Entfernung.
    »Frances?«, sagte er und wartete, die Kamera schwerelos in seiner Hand. Er hatte ihren Namen fast nie ausgesprochen, all die Male, all die Stunden. Wie hatte er sie genannt? Keine Ahnung. Vielleicht hatten sie nie Namen benutzt. »Oha.« Dieses Wort hatte er gehört. Es war in seinem Gedächtnis verankert. Er war sich nicht sicher, ob er es nicht selber gesagt hatte. Was bedeutete das?
    Er stand still und spähte direkt zu der Stelle, die Frances Bilandic eingenommen hatte, mit viel leerem Raum dahinter. Sie würde auftauchen. Sie würde hochschnellen. »Frances?«, sagte er wieder, ohne recht mit seiner Stimme zu rechnen, eher mit ihrer. Er hörte das entfernte Summen des Patrouillenflugzeugs. Er sah hoch, konnte es aber nicht entdecken. Er hielt seine Knie und Oberschenkel an die Mauer gepresst. Alles wirkte vollkommen freundlich. Er blickte nach links und nach unten, wo er die kleinen menschlichen Wesen in den weißen Hemden gesehen hatte, die sich langsam an den Canyonwänden entlangbewegten. Einer oder einige von ihnen, dachte er, sollte jetzt hier hoch schauen und etwas sehen. Einen Augenblick lang erwartete er, Frances da unten zu finden, wo sie waren. Aber dort war sie nicht, und niemand schaute hoch. Niemand dort unten wusste das Geringste von irgendjemand hier oben.
    Und niemand auf dem Pfad ging gerade zurück, in seine Richtung. Er war allein hier, unbeobachtet. Er legte die Kamera auf die sonnenbeschienene Oberseite der Mauer und krabbelte drüber, erst ein nacktes Knie, dann das andere, schürfte sich das Schienbein auf, konnte sich aber hinunterlassen auf das bewucherte Stück Fels, wo Frances sein sollte, jenseits der Stelle, wo die Filmschachtel und die Zigarettenschachtel lagen. Er machte einen Schritt über die lose daliegenden Steine – es roch warm und vertraut nach Urin. Doch nach nur vier vorsichtigen Schritten (hier konnte es durchaus Schlangen geben) stand er an einer jähen zackigen Kante, hinter der es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher