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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
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große Sache. Sie hatten viel Mühe und Zeit dafür aufgewendet. Nun sollte sie es auch genießen, selbst wenn es ihm nicht so viel bedeutete. Wahrscheinlich konnte er ihr Interesse jetzt unmöglich zurückgewinnen; aber während sie hergefahren waren, hatte er gedacht, dass sie zu Hause schon versuchen sollten, das fortzusetzen und etwas ein wenig Dauerhafteres daraus zu machen, falls sie die Logistik in den Griff bekamen. Das wäre gut. Inzwischen sah es allerdings eher danach aus, als würden sie auf der Rückfahrt nicht mehr miteinander reden. Wozu also der Aufwand?
    Weiter vorn auf dem Panoramaweg, wo die anderen Touristen auf die Teleskope und Souvenirläden zustrebten, sah er den Indianerjungen aus dem Motel wieder. Er sprach in ein Handy und nickte. Er war ein bezahlter Führer, entschied Howard, kein spiritueller. Einer, der Beads oder anderen Kram an Provinztrottel verkaufte.
    »Was hältst du jetzt davon?«, sagte Frances schließlich mit heiserer, ehrfürchtiger Stimme, als hätte sie tatsächlich gerade ein Erweckungserlebnis. Sie wandte ihm den Rücken zu. Immer noch starrte sie hinaus auf den großen stillen Raum des Canyons. Sie waren allein. Die letzten drei Touristen schlenderten plaudernd fort. »Ich dachte, ich würde weinen, aber ich kann nicht.«
    »Es ist eigentlich das Gegenteil von Immobilien, oder?«, sagte Howard und hielt das für eine interessante Bemerkung. »Es ist groß, aber es ist leer.«
    Frances drehte sich stirnrunzelnd zu ihm um, die Augen zusammengekniffen und verärgert. »Das denkst du? Groß, aber leer? Du denkst, er ist leer? Du schaust auf den Grand Canyon und denkst: leer?« Sie blickte zurück auf den offenen Canyon, als könnte der sie verstehen. »Du wärst wahrscheinlich auch im Himmel enttäuscht.«
    Also eindeutig keine interessante Bemerkung. Er trat an die Steinmauer, bis seine nackten Knie die Steine berührten, und er tat, was sie seiner Meinung nach wollte. Jetzt konnte er weit, weit unten am Grund des Canyons ein kleines Fäserchen weißen Fluss erkennen. Und dann konnte er winzige Menschen sehen, die auf Pfaden die Flanken des Canyons hinunterwanderten. Gar nicht so wenig, sobald man mal einen entdeckt hatte – in kleinen hellen Hemden, und sie bewegten sich wie Insekten. Würde ein Vogel denken. Da unten gab es nichts zu sehen, das man nicht von hier oben besser sehen konnte. Da unten gab es nichts als Giftschlangen und einen tödlichen Aufstieg zurück, es sei denn, irgendwer schickte einem einen Hubschrauber. »Was für ein Fluss ist das?«, sagte er.
    »Ist doch egal, welcher Scheiß-Fluss es ist«, fauchte Frances. »Der Ganges. Es geht nicht um den Fluss. Aber gut, ich verstehe. Du findest den Canyon leer. Für mich ist er voll. Du und ich, wir sind einfach anders.«
    »Voll wovon?«, sagte Howard. Das kleine summende Flugzeug tauchte wieder auf, flog Stückchen um Stückchen auf den Canyon hinaus. Wahrscheinlich die Polizeipatrouille. Obwohl, was für ein Unrecht konnte man denn hier draußen begehen?
    »Voll heilender Kraft«, sagte Frances. »Er löscht alle schlechten Gedanken. Ich fühle mich nicht mehr so überdrüssig.« Sie starrte direkt hinaus in die kühle, leere Luft und sprach, als spräche sie zum Canyon, nicht zu Howard. »Ich fühle mich so wie früher, als kleines Mädchen«, sagte sie leise. »Ich kann es nicht richtig ausdrücken. Es hat seine eigene Sprache.«
    »Toll«, sagte Howard und dachte aus irgendeinem Grund an sie und ihn im Bett, gestern Nacht, und wie sie sein Gesicht mit ihrem Blick fixiert hatte, als sie ihn in sich aufnahm. Er fragte sich, ob sie jetzt den Canyon genau so fixierte. Er hoffte es.
    »Ich muss jetzt einfach etwas tun, was nicht erlaubt ist«, sagte Frances und warf einen schnellen Kundschafterblick auf die anderen Besucher, die mit ihren Videokameras beschäftigt waren oder sich um die Messingteleskope weiter unten am Weg scharten. »Du sollst gleich ein Bild von mir machen, auf dem hinter mir nur der Canyon zu sehen ist. Ich will diese Mauer nicht auf dem Bild. Ich will nur mich und den Canyon. Tust du das?« Sie reichte ihm die Kamera und erkletterte schon die oben abgeflachte Stützmauer aus Feldsteinen und blickte hinter sich nach unten auf das breite gestrüppbewucherte Felssims. »Du kannst den Canyon wahrscheinlich von da aus, wo du stehst, gar nicht sehen, oder? Du bist groß, aber immer noch nicht groß genug.«
    Er stand da, hielt den Fotoapparat, schaute zu ihr hoch und wartete, dass sie die
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