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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden
Autoren: Richard Ford
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verbarg. Und ein paar Minuten später holte ich aus einer Schublade das silberne Opernglas, das der Theaterregisseur zurückgelassen hatte, nahm es mit ans Fenster und beobachtete die Frau über den dunklen Raum hinweg aus meinem eigenen dunklen Raum heraus.
    Ich weiß nicht, was ich alles dachte. Keine Frage, dass ich erregt war. Keine Frage, dass mir die Heimlichkeit, aus dem Dunkel herauszuspähen, einen besonderen Kitzel verschaffte. Keine Frage, dass mir gerade das Ungehörige daran gefiel, wo meine Frau direkt neben mir lag und schlief und keine Ahnung von dem hatte, was ich tat. Möglicherweise mochte ich sogar die Kälte, die mich umgab, so allgegenwärtig wie die Nacht selbst, vielleicht hatte ich gar das Gefühl, der Anblick der Frau – die ich als jung einschätzte, als entweder unvorsichtig oder wenig schamhaft – stärkte mich irgendwie, umgäbe mich mit einer Isolierschicht, und die ganze Welt stünde still, vollkommen in dem Bild zweier Pole aufgehoben, die mein Blick miteinander verband. Inzwischen weiß ich, dass all das mit meinem bevorstehenden Scheitern zusammenhing.
    Sonst geschah nichts. Ich blieb jedoch in den kommenden Nächten immer wach, um die Fremde zu beobachten, und ließ meine Frau erschöpft einschlafen. Eine Woche lang erschien die andere Frau allabendlich an ihrem Fenster und entkleidete sich langsam in ihrem Zimmer (das ich mir nie vorzustellen versuchte, an der Wand hinter ihr hing allerdings eine Zeichnung, die nach einem springenden Hirsch aussah). Sobald ihre Kleider abgelegt waren, ihre knochigen Schultern, die kleinen Brüste und dünnen Beine und Rippen und der unauffällige, leicht gerundete Bauch entblößt, bewegte sich die Frau eine Zeit lang im Zimmer umher, von Fenster zu Fenster im Bronzelicht, und vollführte etwas, das mir wie ein langsamer ritueller Tanz vorkam oder vielleicht ein theatralischer Bewegungsablauf, Aufrichten und Bücken und Armausstrecken, Nackenkrümmen, während die Hände anmutige, federnde Gesten machten, die ich nicht verstand, ich versuchte es auch gar nicht, so gebannt war ich von ihrer Nacktheit und dem gelegentlichen Anblick des dunklen Haarbüschels zwischen ihren Beinen. Es war die reine Erregung und Heimlichkeit und Ungehörigkeit, sonst eigentlich nichts.
    Eine Woche lang tat ich das, wie gesagt, und dann hörte ich damit auf. Einfach so, eines Abends, als ich, wieder einmal in Decken gewickelt, mit meinem Opernglas ans Fenster trat und das eingeschaltete Licht über den leeren Raum hinweg betrachtete. Eine Weile sah ich niemanden. Und dann drehte ich mich um, ohne einen bestimmten Grund, und legte mich ins Bett zu meiner Frau, die unter ihren Decken warm war und nach Brandy, Schweiß und Schlaf roch, und ich schlief selber ein und kam nie mehr auf den Gedanken, durch dieses Fenster zu starren.
    Eines Nachmittags jedoch, eine Woche nachdem ich aufgehört hatte, die Frau durchs Fenster zu beobachten, stand ich frustriert und in sinnloser Verzweiflung von meinem Schreibtisch auf und stapfte hinaus in das Winterlicht, an der Reihe schicker Geschäfte entlang, wo die alten Häuser gerade zu Kleiderläden und erfolgreichen Kunstgalerien umgestylt wurden. Ich ging bis zum Fluss, auf dem sich große graue Eisschollen ineinander schoben. Und weiter in das Universitätsviertel, fast bis dorthin, wo meine Frau gerade arbeitete. Dann, es wurde bereits dunkel, machte ich mich auf den Rückweg in meine Straße, das Gesicht hart vor Kälte, die Schultern steif, die Hände ohne Handschuhe erstarrt und rot. Als ich um eine Ecke bog, eine Abkürzung zu meinem Block einschlagend, fiel mir plötzlich das Haus auf, das ich tagelang ausgespäht hatte. Es hatte irgendetwas an sich, das keinen Zweifel daran ließ, obwohl ich noch nie mit Bewusstsein daran vorbeigegangen war oder es auch nur bei Tageslicht gesehen hatte. Und genau in diesem Augenblick stand dort, die große Haustür aufschließend, die Frau, die ich in jenen wenigen Nächten beobachtet, von der ich mir Vergnügen und sicher auch heimlichen Trost geholt hatte. Natürlich erkannte ich ihr Gesicht – klein und rund und, wie ich sah, unbewegt. Zu meiner Verblüffung, nicht aber traurigen Enttäuschung war sie alt. Vielleicht siebzig oder noch älter. Eine Chinesin, gekleidet in dünne schwarze Hosen und eine dünne schwarze Jacke, in der sie bestimmt so fror wie ich. Eiskalt muss ihr gewesen sein. Plastiktüten voller Lebensmittel hingen an ihren Armen, einige hielt sie in der Hand. Als ich
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